Dichter/-innen wissen, wie schnell man zum Outlaw wird. Wie argwöhnisch einen die Mächtigen, Reichen und Autoritären beobachten, gerade dann, wenn die Medien längst mundtot gemacht sind und sich nicht mehr trauen, die Vorgänge im Land beim Namen zu nennen. Seit 2011, seit ihr Requiem auf die Toten der „Kursk“ in Melbourne aufgeführt wurde, gilt Angelina Polonskaja im Kreml als Dissidentin und kann in Russland praktisch nicht mehr veröffentlichen.

Sieben Gedichtbände hat die Dichterin, die in einer kleinen Stadt nahe Moskau geboren wurde, inzwischen veröffentlicht. Dies nun ist der zweite, der ins Deutsche übersetzt wurde. Und er erschien in der längst verdienstvollen Bibliothek OSTSÜDOST des Leipziger Literaturverlages, mit der er Autor/-innen für deutsche Leser/-innen zugänglich macht, die in den Programmen der großen Verlage eher keine Chance haben, wahrgenommen zu werden. Die Zeit, da namhafte deutsche Verlage ganz bewusst dissidentische Literatur aus Osteuropa veröffentlichten, ist vorbei.Man tut gern so, als wäre das nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht mehr nötig, als hätte sich diese Aufmerksamkeit damit erledigt, als die kommunistischen Parteien dort die Segel und Fahnen strichen. Dass sich aber in vielen Fällen der alte Autoritarismus in neuen Strukturen etabliert hat und dabei ganz ähnliche Zensur- und Verbotsmodelle anwendet, wie sie in Zeiten des Kalten Krieges üblich waren, scheint man selbst in den großen deutschen Medien nicht mehr wahrzunehmen.

Als würde ihnen einfach die Propagandafarbe Rot fehlen, um noch zu erkennen, was für ein Regierungsstil in Russland gepflegt wird und warum keine kommunistische Partei gebraucht wird. Um Presse und Literatur eines Landes zum Ducken zu bringen.

Und auch wenn es der Verlag ein wenig anders sieht („Polonskajas Lyrik bricht mit russischen Traditionslinien …“), gehört auch dieser von Trauer erfüllte Gedichtband von Angelina Polonskaja in die Tradition der großen russischen Dichterinnen und Dichter, in eine Reihe mit Achmatowa und Zwetajewa, Bely und Mandelstam. Ständig geht einem der Romantitel von Artjom Wesjoly durch den Kopf: „Russland in Blut gewaschen“.

Und wenn man parallel dann auch noch ein Buch liest, das Napoleons Feldzug gegen Russland schildert, kann man gar nicht anders, als die letztlich ungebrochene Traditionslinie zu sehen, die den Ton angibt – nicht nur für die große russische Literatur der vergangenen 200 Jahre, sondern für dieses Land selbst und seinen schweren Gang durch die Zeit mit den blutigen Kriegen, den scheiternden Revolutionen und den Spielen der Macht und der Mächtigen. Und der Ohnmacht der Menschen, die die Macht nicht haben, daran irgendetwas zu ändern.

Es ist genau diese Perspektive, die Polonskaja einnimmt, wenn sie das Leben in einem Land schildert, das sich seit Jahren schon wieder in einem unerklärten Krieg befindet, ganz so, als hätte das nie aufgehört, als wären die Kriege wie Buschfeuer, die immerzu irgendwo auflodern und die Männer verschlingen, die Söhne und Väter, die nicht mehr zurückkehren. Ein Land, in dem die Mütter und Frauen immer wieder besorgt an der Bahnstation stehen, den Zügen nachsehen, die nach Osten fahren, oder vergeblich auf die Rückkehr der Männer warten.

Es ist das andere Russland, das duldende und leidende, das sich nie wiederfindet in den Reden der Mächtigen. „Nah am Feuer ist es umso kälter, / je größer in den Augen die Tropfen sind“, übersetzt Erich Ahrndt die letzten Zeilen des Gedichts „Du sagtest mir, das Haus ist nicht mehr da …“ Polonskajas Gedichte sind voller solcher Abschiede und Verluste.

„Aber die Kinder hat man zu Rekruten geschoren, / vermodert sind die Abzeichen und Feldmützen“, heißt es in „Quell des Weiblichen“. Ohne dass greifbar ist: Ist das ein Echo des Afghanistan-Krieges oder das eines jener jüngeren Feldzüge, die offiziell keine sein sollten? Wie erlebt man ein Land, in dem auch der Protest unterdrückt wird: „Ich stehe mit dem Gesicht zur Wand, wie die Bewachung befahl / mit nicht ortsüblicher Eleganz, mein Mantel ist weißer / als eine Juninacht an der Newa …“

Natürlich sind ihre Gedichte voller Brüche. Wie sollte das anders sein nach so einem Jahrhundert, das augenscheinlich nicht enden will? Einem Jahrhundert aus Rauch und Asche. Einem Jahrhundert, in dem der Bruch geradezu zum Stilmittel der Dichter wurde, um das Unfassbare, Unaushaltbare überhaupt in Worte fassen zu können. Harmlos wirken diese Gedichte nur äußerlich, nur oberflächlich, wenn man den Bildern nicht folgt. „Wie Bestien werden uns die Scheinwerfer einfangen / und uns von Trennung zu Trennung führen. / Die Musik hat nicht drinnen ausgesetzt, / sondern sie gehorcht nicht mehr dem Gehör.“ (Unvollendete Musik (2))

Mit jedem Gedicht taucht man tiefer ein in dieses Wissen darum, wie die Dichterin sich selbst verliert. Ganze Gedichte erzählen vom „nicht“, das nicht nur vom entleerten Leben erzählt, sondern auch vom Aufhören der Träume. „Ich stehe nicht längst schon am Meer, seh am Schiff mich nicht satt / Und man zieht die Brücke nicht auf, die du / bewundert hast morgens schon …“, heißt es in einem Gedicht, das mit „Der Regen rauscht“ beginnt.

Die Elemente und Jahreszeiten sind stets präsent. Denn wenn sich das mögliche Leben entleert, wird die Allgegenwärtigkeit der Natur zum bestimmenden Bild. Darin: die riesige Weite und Einsamkeit. Und das Verlorensein. Denn wenn man sein Leben nicht leben darf, was bleibt dann?

Gar, wenn die Macht ihre Zeichen setzt. Alleinsein und doch nur unbeobachtet. „… am Ende der Straße ist niemand. Auch am Anfang nicht. / Das Telefon antwortet nicht auf mein Klingeln. / Wir stehen am Rande eines Bürgerkriegs, / aber es ist noch nicht bekannt, ob Pogrome bevorstehen. („Chronik eines Tages“)

Vielleicht bleibt der Bürgerkrieg auch aus. Vielleicht geht das immer so weiter. Und stehen die Frauen wartend am Zaun, an der Bahnstation. Oder lehnen am Springbrunnen. „Eine Kugel im Mantel. / Doch für wen die Kugel ist – ich erinnere mich nicht. / Es gibt keine Zweitschlüssel.“ („Vom Februar“)

Will hier jemand die Dichterin zum Schweigen bringen? Ist das zu deutlich, was sie sagt über sich, die Traurigkeit des Landes und die Leere, die entsteht, wenn Trauer nicht mehr gezeigt werden darf? Wenn das Gefühl allgegenwärtig ist: „Hier ist die Welt zu Ende. / Sprich nicht davon, kein Wort …“

Denn in der „unvollendeten Musik“ steckt ja beides: die unvollendet bleibende Musik des Lebens (so wie in „Trauriger Walzer von Sibelius“) und die unvollendete Musik des riesigen Landes, das nicht zu sich selbst finden darf.

„Zum letzten Mal bitt ich: Verzeih. / Ich bin eine böse Tochter und in die Ecke getrieben. / Tropfen aus Zement auf den Vers aus Zement / über diejenige, die niemand liebt“, beschreibt sie die Einsamkeit, die zwangsläufig entsteht, wen man das Gefühl nicht mehr loswird, falsch zu sein, ungewollt und unpassend. Wer nicht jubelt mit der Macht – was bleibt dem, außer Einsamkeit? „Den Sommer hab ich vergessen, / Regen. Mittelrussisches Leid / geht mich nichts an, / und wer jemandem den Hals umdreht …“

Es sind keine Klagegesänge. Damit könnten die Überwachten wohl leben. Es sind nüchterne Bestandsaufnahmen, Zustandsbeschreibungen, Notate aus einem Leben, das die Eingrenzungen und Verluste nur registriert, abhakt, weiterlebt. Und gerade in dieser stillen Unerbittlichkeit sind die Gedichte wie Anklagen. Genau so können sie gelesen werden. Hier meldet sich die zu Wort, die stellvertretend für viele andere nicht ist. Und das Nichtsein als Zustand zeigt.

Das vergessen Menschen so leicht, wenn sie in glücklicheren Ländern leben, wie sich das anfühlt, nicht sein zu dürfen. Aber vielleicht merken das auch wirklich nur die Dichter/-innen. Und halten es fest in Gedichten, die auch noch in 100 Jahren spüren lassen, wie bitter dieses Nicht-sein-Dürfen war. Und ist, und immer sein wird. Es ist die andere Seite der Macht, das Aufbegehren derer, die noch wissen, dass Leben sein könnte: „Wie still / klopft die Seele / an verschlossene Türen …“

Und immer wieder klingen die Töne an, die uns an die wachen Dichter/-innen gerade aus dem frühen 20. Jahrhundert erinnern, ihre Bitternis, die sich stets mit einem satirischen Ton verband, der keine Verstellung brauchte. So wie in den letzten Zeilen von „Unvollendete Musik“: „Wir lebten, lebten schlecht und recht / und starben, wie wir’s eben konnten.“

Angelina Polonskaja Unvollendete Musik, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2020, 16,95 Euro.

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