Sie brauchen ihre Sinne. Denn nur so funktionieren Gedichte – unsinnliche Gedichte ergeben keinen Sinn. Also lud die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik für das aktuelle „Poesiealbum neu“ seine Mitglieder ein, sich einmal näher mit unseren fünf Sinnen zu beschäftigen. Eigentlich haben wir mehr. Aber meist beschränken sich auch die Dichter auf diese fünf: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen.

Wobei Schmecken und Riechen auch unter Dichtern die Findelkinder sind. Warum sollten dichtende Menschen anders ticken als all die anderen, die die Welt ganz unpoetisch sehen? Und zwar vor allem mit Augen und Ohren und Händen. Was schon einen sehr breiten Kanon der Weltwahrnehmung ergibt. Einen intensiven zumal.

Denn wenn man seine Sinne die Welt tatsächlich wahrnehmen lässt, wird ihre Fülle sichtbar. Und die Leser und Leserinnen werden daran erinnert, dass uns die Erscheinungen der Welt eigentlich zutiefst berühren: das berühmte „Dunkel der Nacht“ wie bei Wolfgang Schiffer, „Strahlenmeer“ und „Regenbogenhaut“ wie bei Marlies Blauth oder immer wieder das Meer, das praktisch die Hälfte der hier teilnehmenden Gedichtverfasser animiert hat, die Sinne zu besingen.

Scheinbar gibt es nichts Größeres und Klassischeres. Da können einem schon einmal die Sinne durcheinandergeraten wie bei Carsten Stephan: „Die See lutscht lärmend an dem bleichen Strande …“

Man merkt: Da und dort wirkt auch noch die Spätromantik des 19. Jahrhunderts hinein in die Texte. Was zu erwarten war. Wir wachsen ja mit Bildern auf. Bilder, die ganze Generationen vor uns geprägt und verfestigt haben. So wie eben das Meer. Obwohl es kaum einen anderen Ort gibt, an dem die Schauenden so auf sich selbst zurückgeworfen sind: In der grandiosen tosenden Weite spiegelt sich das kleine, immerzu sich selbst reflektierende Ich. So wie bei Matthias Kröner: „Plastik, denke ich, und dann denke ich: / Den Horizont kann man eh nicht sehen …“

Das Dilemma des immerfort einordnenden und reflektierenden Menschen auf den Punkt gebracht.

Bilder im Kopf

Wir können gar nicht anders. Wir denken immer mit, was unser Kopf uns als verbundene Vokabeln anbietet. Plastik zum Beispiel. Was sind das für Zeiten, in denen man Meer nicht mehr ohne Plastik denken kann? Andere denken an Nereiden und Neptun. Auch die klassische Bildung steckt ja im Kopf. Wir sind nirgendwo allein. Und schon gar nicht unbefangen. Und die ganz große Kunst ist es, die poetisierte Welt zu beschreiben, ohne dabei all die Anderen vor uns zu zitieren.

Egal, ob das „schaumgesäumte“ Meer wie bei Susanne Matthies oder den Wald mit seinen „moosüberwucherten Bäumen“ wie bei Andreas Hutt. Aber gerade dadurch wird die Aufgabe, die für dieses Themenalbum gestellt wurde, greifbar: Nehmen wir alles tatsächlich mit unseren fünf bis sieben Sinnen wahr oder doch durch die Brille derer, die vorher schon gesagt haben, was sie sahen? Können wir überhaupt anders sehen, riechen, hören?

Wahrscheinlich nicht. Denn die Bilder entstehen ja erst im Kopf. Was im Vorwort die Psychologin Kathrin Orla extra noch einmal erklärt. Wir können die Welt, wie sie ist, gar nicht in ihrer konkreten Realität aufnehmen. Alles, was wir wahrnehmen, entsteht als Konstrukt in unserem Gehirn. Wir können also gar nicht anders. Oder doch?

Denn nichts sagt uns ja, dass die tradierten Bilder da Gesehene tatsächlich treffend beschreiben. Arbeit am Gedicht ist auch immer das Wegfräsen des Unwesentlichen und Unstimmigen, dessen, war schon lange nur noch Hülle ist, dichterische Phrase (und das späte 19. Jahrhundert war voll davon). Es ist ein Hinarbeiten auf das wirklich treffende Bild. Das Bild, das beim Leser hängen bleibt, weil es seine Erfahrungen im wirlichen Leben anrührt und aufschreckt.

Oder erschreckt, weil doch wieder die alten Worte auftauchen, die im Supermarkt als „poetisch“ verkauft werden. Herzschlag, Lebenswasser und Schmiegen zum Beispiel. Aber wer sagt, dass Dichten keine Arbeit ist? Arbeit am Wort-Werk, so grob, so fein wie andere Leute mit Holz, Stein oder Metall arbeiten. Das wird so gern vergessen in Zeiten, da alles nach seinem Verkaufswert bemessen wird: dass auch unsere Sprache ein kostbares Material ist, mit dem Dichter besonders feinfühlig umgehen. Umgehen müssen.

Bezahlt werden sie dafür nicht. Jeder Rabauke und Manager glaubt, Sprache zu beherrschen. Deswegen ist unsere politische Wirklichkeit auch so trostlos, bildlos und schäbig. Eine Welt des Ungreifbaren, Papiernen, Tiefelosen und der Phrase.

Betroffen sein

Denn Tiefe beginnt da, wo Bilder greifbar und lebendig werden. Ahnungen von Gefühlen. „Die Hände der Läusesucherinnen“ bei Thomas Hald werden sofort zu so einem Bild. Oder die tote Taube bei Philip Saß. Denn so erleben wir die Welt (wenn wir nicht abgestumpft sind): als sinnliches Bild. Mit allen Sinnen. Auch den Sinnen für Gleichgewicht und Wärme und Kälte. Sodass wir schwanken und uns heiß und kalt wird. Das sind die stärksten Gedichte, die uns genau da berühren.

„Meine Nase stecke ich in deinen Nacken“, wie bei Birgit Müller Wieland. Oder so scheinbar ganz einfach wie bei Roland Bärwinkel: „Ich sehe, wie du dich vorbeugst über / einen Motorblock und ich weiß. / alles wird gut.“

Ein paar Verse, die uns daran erinnern, dass wir alle diese Momente erleben, die uns spüren lassen, dass wir mit allen Sinnen und Gefühlen in der Welt verhaftet sind. Selten genug, so wie wir stets mit Ablenkung und Geschäftigtun durch die Tage rauschen. Nur nicht berühren lassen, nur nicht betroffen sein.

Wer betroffen ist, wütet nicht mehr, hat keine Ausreden mehr. Oder merkt, dass seine Sinne ihm fortwährend melden: Schau hin, hör hin, spüre das. Denn dazu bist du auf der Welt: Das alles zu spüren. Mit allen Sinnen.

Rund 80 Autorinnen und Autoren haben hier ihre Art, ihre Sinne zu nutzen, in Gedichtform zu fassen versucht. Die einen verspielt, die anderen ganz klassisch. Durchaus ahnend, dass es nicht reicht, auf poetische Bilder zuzugreifen, die gleich im Regal stehen. Denn das, was unsere Sinne uns tatsächlich vermitteln, ist flüchtig, schwer zu fassen.

Zwischen Chaostheorie und Plattenschrank

Die Dichter jagen dem schon seit Jahrhunderten nach. Und manchmal gelingt dann ein Vers, der fängt es tatsächlich ein. So genau, dass man es sogar zu riechen glaubt. Oder zu schmecken.

Und dann funkt wieder unser ganzes Wissen dazwischen wie bei Andreas Köllner, bei dem ihm beim Wort Flügelschlag die komplette Chaostheorie ins Gedicht hagelt. Nicht einmal das Wort Schmetterling kann man noch so naiv verwenden wie die Romantiker. Und trotzdem ahnt man, dass die gestellte Aufgabe so manche Dichterin dazu brachte, das Thema tatsächlich ganz ernst zu nehmen und am Schopf zu packen.

So wie Grit Kurth, die einfach vom Schreibtisch aufstand und ihren Plattenschrank öffnete und mit allen Sinnen die Präsenz ihrer alten Platten nachempfand. Unsere Sinnlichkeit liegt ganz nah – eigentlich liegt sie immer zutage. Nur lassen wir sie viel zu selten zu und verpassen deshalb die Millionen Momente, in denen uns das Unerhörte und Unerspürte begegnen könnte.

So laden die Gedichte ein zum Die-Sinne-Öffnen. Dazu braucht man nicht einmal ein Meer und auch keinen dunklen Wald. Das geht gleich hier und jetzt. Und dann setzt die Nadel auf und der erste Ton ist ein Knistern … So gerät man in ein Gedicht. Das muss nur immer wieder einmal anschaulich erzählt werden.

Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik (Hrsg.) „Poesiealbum neu. Von Sinnen“, Leipzig 2024, 7,80 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar