Es war ein exemplarisches Beispiel dafür, wie populistische Politik wirkt und in die Hosen geht, dieser Brexit, der Europa fünf Jahre lang in Atem hielt, angefangen von David Camerons völlig unsinnigem Wahlversprechen, ein Referendum zum Verbleib Großbritanniens in der EU zu veranstalten, über Jahre der britischen Fingerhakeleien bis zum Austritt unter Boris Johnson. Nicht nur Volker Berghahn grübelt da, ob dieser Heckmeck vielleicht historische Gründe hat.

Auch James Hawes hat ja deshalb 2020 sein Buch „Die kürzeste Geschichte Englands“ geschrieben, in dem er noch viel weiter als Berghahn in die englische Geschichte eintaucht und die verhängnisvolle Entwicklung der englischen Eliten beleuchtet, gekoppelt mit seinem geografischen Blick auf das zerrissene England, in dem uralte historische Unterschiede bis in die Gegenwart Politik beeinflussen.Aber sein Fazit mündet eigentlich in den Satz: Italien und Deutschland mögen von Geografie und Geschichte ähnlich zerrissen sein wie England, „doch beide Länder kennen nicht den tiefsten aller Gräben: den 1.000-jährigen Abgrund, der einfache Engländer von ihren Eliten trennt.“

Ein Satz, der eigentlich auch unter Berghahns Analyse stehen könnte. Aber er hat seine Schwerpunkte anders gesetzt und beleuchtet die Vorgeschichte des Brexits konzentriert auf die letzten 200 Jahre, die eben damit begannen, dass Großbritannien mit der Industrialisierung zur führenden Weltmacht aufstieg und sich mit seinem Empire eine Machtfülle verschaffte, wie sie keine andere Kolonialmacht in dieser Zeit hatte.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Vormachtstellung Großbritanniens unbestritten. Bis dann zwei Konkurrenten auf dem Weltmarkt erschienen, die die wirtschaftliche Dominanz Englands infrage stellten: anfangs noch sehr zurückhaltend die USA, aber ab 1890 auch mit zunehmenden politischen und militärischen Ansprüchen das Deutsche Kaiserreich.

Das verlorene Empire

Natürlich hat Berghahn, der bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte an der Columbia University in New York war, recht damit, wenn er den Verlust dieser Vormachtstellung als ein Trauma betrachtet, das bis heute die englische Politik beeinflusst.

Ein Trauma, das noch bestärkt wurde durch zwei große Weltkriege, die beide nicht von Großbritannien verschuldet und auch nicht gewollt waren, aus denen Großbritannien beide Mal als Teil der westlichen Alliierten als Sieger hervorging, die aber beide so viel wirtschaftliche Substanz gekostet haben, dass England – anders als das besiegte Deutschland – sich nie wieder wirklich von diesen Rückschlägen erholt hat.

Auch weil Englands Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg andere Entscheidungen trafen als die Konkurrenten auf dem Festland. Eigentlich sogar schon vorher, wie Bergahn in Bezug auf die 1920er Jahre feststellt: „Damals kehrten die Konservativen und Winston Churchill gegen den Willen der Industrie und ihrer Sprecher zum Goldstandard zurück, wofür sich die Bank of England im Eigeninteresse starkgemacht hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholte sich dieses Bild. Anstatt eine Modernisierung der Industrie des Landes zu fördern, wandte sich die City (of London, d.Red.) den lukrativen Finanzmärkten des Empire und Commonwealth zu.“

Und als dann Margaret Thatcher Premierministerin wurde, versetzte sie dem einstigen industriellen Norden Englands im Grunde den Gnadenstoß, setzte komplett auf einen neoliberalen Umbau des Landes, der die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter öffnete, hohe Einkommen und Reichtümer in der Hand einiger weniger konzentrierte, während die Gewerkschaften entmachtet wurden und sich das reiche London immer mehr abkoppelte vom Rest des Landes.

Der wohlfeile Sündenbock EU

Und auch wenn Berghahn die Herkunft der Protagonisten, die in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten regierten, immer nur punktuell streift, bekommt man das Bild einer in Oxford und Cambridge ausgebildeten Elite, die bestens vernetzt ist und quasi schon durch Geburtsrecht in höchste politische Ämter kommt – der aber die Welt der Industrie, der Arbeiter und sozial Abgehängten völlig fremd ist.

Auch wenn ausgerechnet diese dann 2016 den Brexit-Befürwortern die entscheidenden Stimmen brachten, sodass die Briten in einem regelrechten Rausch (mit anschließendem Kater) mit 52 : 48 Prozent dafür stimmten, die EU um jeden Preis zu verlassen.

Womit auch das Bild einer stockkonservativen Elite in Skizzen sichtbar wird, die ihre Eigeninteressen immer über die ihres Landes gestellt hat und auch nie daran dachte, ihre blumigen Versprechen an die von Einkommensverlusten, Schulden und Arbeitslosigkeit gebeutelten Arbeiter aus den alten industriellen Zentren des Nordens einzulösen.

Mal so formuliert: Populismus ist zuallererst ein elitäres Projekt.

Eigentlich eine Situation, in der die Labour Party rauschende Wahlsiege hätte einfahren müssen. Was sie aber nicht tat, denn in Bezug auf den Brexit ist die alte Arbeiterpartei noch viel zerrissener als es die Konservativen sind. Denn an einer Stelle wird Berghahn recht deutlich, wenn er schildert, wie leicht es den englischen Eliten fällt, dem Wahlvolk falsche Versprechen zu machen und abzulenken vom eigentlichen Niedergang der alten Industrienation England.

„Doch dann geschah in England etwas, was nicht den Neoliberalismus für die Schwierigkeiten verantwortlich machte“, schreibt Berghahn. „Vielmehr begaben sich eine Reihe von Politikern in geradezu klassischer Manier auf die Suche nach einem Sündenbock für die Misere und schossen sich auf die EU und die in Brüssel sitzenden ‚Bürokraten‘ ein, die angeblich die Freiheiten und die Souveränität des Landes einengten.“

Müde vom Brexit-Chaos

Hast du erst mal einen Sündenbock, kannst du die ganze Wut der Wähler/-innen über ihre demolierten Lebenszustände auf den äußeren Feind kanalisieren. Was ja auch in Deutschland einige Populisten getan haben und damit auf Wählerfang gingen. Auch das ursprünglich mal ein elitäres Projekt, das – na hoppla – in ein nationalistisches und ausländerfeindliches Gezeter übergegangen ist.

Denn „die Migranten“ sind natürlich auch irgendwie dran schuld, wenn die hochwertigen Arbeitsplätze einfach verschwinden, weil sie in Billigländer in Asien exportiert wurden. Während die Dagebliebenen mit prekären Jobs abgefüttert werden.

Was prosperiert, ist die City of London, die möglicherweise sogar vom Brexit profitiert, während mehrere Konzerne, die bislang in England produzierten, ihre Belegschaft schon abgebaut haben oder die Produktion in größeren Teilen aufs europäische Festland verlagert haben.

Die letzte Wahl, aus der dann Boris Johnson als großer Sieger und Brexit-Vollstrecker hervorging, war dann schon eine Wahl, in der viele Briten ihre Stimme einfach deshalb abgaben, damit das seit Jahren andauernde Gezerre endlich aufhörte. Und wieder waren die Tories mit einem einfachen Slogan in die Wahl gezogen: „Den Brexit zu Ende bringen.“

Ein Effekt, den ja viele auch aus den nun anderthalb Jahren andauernden Corona-Debatten in Deutschland kennen: Irgendwann kann man es nicht mehr hören, werden die Bürger müde vom Hü und Hott, wollen nur noch, dass das Ganze irgendwann ein Ende findet. Und in Wahlen liest dann kaum noch einer solche dicken Wahlprogramme, mit denen etwa Labour in die Schlacht zog. Da verfangen dann die einfachsten Parolen.

Wieder allein auf hoher See

Ob das am Ende England wirklich zu alter Größe führt, bezweifelt auch Berghahn, denn der wichtigste Außenmarkt für Großbritannien war auch bis 2020 immer die EU. Es wird noch Jahre dauern, bis alle alten Verträge, die die Insel mit der EU verbanden, durch neue bilaterale Verträge ersetzt sind.

Eine Orientierung Großbritanniens auf alte Commonwealth-Partner wie Kanada oder eine bevorzugte Partnerschaft mit den USA (die Donald Trump ja in einer seiner wohlfeilen Reden vorschlug) werden die wichtigen Handelsbeziehungen zur EU nicht ersetzen können.

Denn so viele wertvolle Handelsgüter, die jetzt den Handel mit Amerika befeuern könnten, hat England nicht. Das Wachstum des BIP wird fast ausschließlich am Finanzplatz London generiert. Mit weltweiten Finanztransaktionen macht man dort Geld und profitiert weiterhin davon, dass Margaret Thatcher die Regularien für die Finanzmärkte aufgehoben hat, ein Akt, der ja bekanntlich zum großen Crash von 2008 beitrug, als die Steuerzahler weltweit die angeschlagenen Banken retten mussten.

Aber in London hat sich nichts geändert. Die Volumina, mit denen dort „gehandelt“ wird, sind längst viel größer als vor 2008. Der einstige Industrieriese England steht heute auf wackligen Türmen durchaus brisanter Geldanlagen.

Berghahn fasst das so zusammen: „Das Land insgesamt wird zu einer zweitrangigen Nation am Rande Europas werden, die im Süden um das Londoner Bankzentrum bis auf Weiteres prosperieren mag. Allerdings sollte die City nicht zu zuversichtlich sein“, weil große Finanzplätze weltweit als Konkurrenten in den Startlöchern stehen. „In den Midlands und im Norden wird es indessen ziemlich sicher immer ärmlicher zugehen.“

Englands TINA-Problem

Was dann eben auch bedeutet, dass ausgerechnet jene Wähler, die den Brexit-Befürwortern zum Erfolg verholfen haben, am Ende nichts davon haben. Außer noch mehr Armut. Denn das eigentliche Problem, unter dem England seit Jahrzehnten leidet, wird ja nicht thematisiert und zerstört weiter die industrielle Basis des Landes: die neoliberale Heilslehre, mit der einst Margaret Thatcher glaubte, das Land wieder starkmachen zu können.

Tatsächlich haben all die Privatisierungen und Steuersenkungen nur dazu geführt, dass selbst einstige Vorzeigeprojekte wie der englische Gesundheitsdienst und die Eisenbahn heruntergewirtschaftet und kaputtgespart sind.

Berghahn vermutet zwar, dass die ganzen Regierungsdokumente aus der Zeit von Cameron, May und Johnson am Ende noch mehr Klarheit bringen werden darüber, wie ein kleines Häuflein konservativer Egoisten das Land in den Brexit getrieben hat. Aber eigentlich liegt es ja auch offen zutage.

Bestenfalls werden noch mehr von den Hahnenkämpfen sichtbar, mit denen sich die elitären Jungs hinter den Kulissen gebalgt und ausgeknockt haben. Jeder darum bemüht, sich als noch härterer Hund zu behaupten. Ein Phänomen, das jetzt sogar Boris Johnson einzuholen droht.

Nur eines wird in der ganzen Geschichte nicht sichtbar: Dass diese so von sich überzeugten Oxbridge-Absolventen in irgendeiner Weise das Wohlergehen des Landes im Blick hatten oder sich bis zu den Austrittsverhandlungen überhaupt einmal Gedanken darüber gemacht haben, welchen Wert die EU-Mitgliedschaft für das industriell geschwächte England eigentlich hat.

Dass dabei auch Ressentiments gegen das zwei Mal besiegte Deutschland mitschwangen, dem man innerhalb der EU auch noch eine Art Superrolle zuschrieb, kann zwar Handlungsmotive erklären. Aber es erzählt auch davon, wie sehr die jüngere englische Geschichte von ihrer Eigensicht dominiert war und von den eigenen Märchen von früherer Größe und einer „splendid isolation“. Zu der ja Boris Johnson glaubt, wieder zurückkehren zu können.

Die große Illusion

Gerade in den letzten Kapiteln, in denen Berghahn die zähen Brexit-Verhandlungen unter Theresa Mays und Boris Johnsons Ägide näher beleuchtet, bezieht er sich mehrfach auf das inzwischen auf Französisch erschienene Buch „La Grande Illusion. Journal secret du Brexit (2016–2020)“ von Michel Barnier, der ja für die EU in diesen vier zähen Jahren der Chefunterhändler war und miterlebt hat, wie stur und konfus die Briten in diesen Verhandlungen agierten.

Was seine Gründe hat, denn bis zuletzt – und eigentlich auch heute noch – balgten sich die Tories um die Frage, wer denn nun der härteste Brexit-Verfechter ist. Als wäre Politik auch nur eine kleine College-Klopperei, bei der es völlig egal ist, was dabei alles zu Bruch geht.

Und so wird auch Berghahns Buch im Grunde zum Porträt einer reichen Politik-Elite, der es vor allem um die Macht geht und die Befriedigung der eigenen Eitelkeit. Und die ihrer Zunftgenossen, die genauso wie in Deutschland so ungern Steuern zahlen, die der Allgemeinheit zugute kommen. Den Trickle-down-Unfug hat als erste Margaret Thatcher zur Politik gemacht.

Nur hat der in England genauso wenig funktioniert wie in den USA. Er hat nur maßgeblich dazu beigetragen, dass die Einkommen immer weiter auseinanderklaffen. So betrachtet ist der Brexit auch die Folge eines radikalen Neoliberalismus, der ja niemals irgendwelche Ängste zeigt, mit ganzen Gesellschaften rigide Experimente anzustellen. Oder mal mit einem Schlagwort von Naomi Klein: Es einfach immer wieder mit neuen „Schock-Strategien“ versucht. Vielleicht klappt’s ja diesmal.

Volker Berghahn bezweifelt, dass es klappen kann und bezieht sich auf den Holländer Rem Korteweg, wenn er schreibt: „In den Augen der Holländer befindet sich das Land in einer ‚tiefen Identitätskrise‘. Der Brexit basiere auf ‚Emotionen (und) nicht auf Rationalität‘, und so sei auch nicht erkennbar, wie alles enden werde. Ebenso sei die ‚Verwundbarkeit unserer politischen Prozesse‘ deutlich geworden, aber zugleich, dass es wert sei, das bisher Aufgebaute zu verteidigen.“

Und anders als May und Johnson erhofften, brachte der Brexit auch keine Spaltung unter den anderen Mitgliedsländern zustande. Im Gegenteil: Sie rückten wieder enger zusammen und standen geschlossen hinter den Verhandlungen Barniers. Da siegte dann die Rationalität, auch wenn es einige Europäer durchaus fertigbringen, sehr irrational zu handeln.

Aber die meisten wissen, dass die EU bei all ihren Baufehlern mehr ist als ein „bürokratisches Monster in Brüssel“. Und dass es in einer Welt, in der sich die Großmächte wieder mit Handelssanktionen gegenseitig die Birne hauen, besser ist, zusammenzustehen, als von der Größe einer Nation irgendwann in der Vergangenheit zu träumen.

Volker Berghahn Englands Brexit und Abschied von der Welt, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2021, 29 Euro.

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Keine Kommentare bisher

das ist ja alles voellig einleuchtend. was aber auch zu beachten ist, ist die rolle , die vor allem die andere (nahezu) englisch sprechende nation auf der anderen seite des atlantik spielt. die eliten da sind sicher anders strukturiert, anders entstanden, haben aber doch ausser der sprache auch sonst einiges mit den im buch beschriebenen kreisen gemeinsam. ganz praktisch fuer die tories …..

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