Am Mittwoch, 12. Januar, veröffentlichte die Universität Kassel eine neue Studie zu „Ostdeutsche in Spitzenpositionen in der deutschen Politik“. Es wird nicht die letzte gewesen sein, die zu dem verblüffenden Ergebnis kommt, dass Ostdeutsche in den Spitzenämtern weiterhin kaum auftauchen. Der Elitenwechsel von 1990 zeigt Wirkungen bis heute. Denn er war gründlicher, als es sich viele gedacht haben.

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es nur wenige ostdeutsche Spitzenbeamte in den Bundesministerien. Die am Mittwoch vorgelegte Studie der Universität Kassel belegt nun mit Zahlen, wie drastisch das Ungleichgewicht seit Jahrzehnten ist. Auch unter der neuen Bundesregierung hat sich wenig geändert.Demnach sucht man aus Ostdeutschland stammende Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamte in der gesamtdeutschen Verwaltungselite bis heute fast vergeblich: Unter Staatssekretären und Abteilungsleitern in Bundesministerien und im Kanzleramt lag der Anteil der Ostdeutschen bis zum Ende der dritten Amtszeit von Angela Merkel meist bei rund einem Prozent, in der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder und in der ersten Amtszeit von Angela Merkel gab es schlicht überhaupt keine Ostdeutschen in diesen Positionen.

Auch unter der neuen Ampelkoalition findet sich bisher nur eine im Osten Deutschlands aufgewachsene Staatssekretärin: Antje Draheim ist seit 8. Dezember 2021 Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit.

Ostdeutsche im Regierungskabinett

In der politischen Elite, also an den Kabinettstischen, ist der Anteil Ostdeutscher traditionell etwas höher, aktuell ist er mit rund 9 Prozent aber niedriger als in den meisten Vorgängerregierungen nach 1990. In der Ampelregierung gibt es mit Clara Geywitz und Steffi Lemke zwei ostdeutsche Ministerinnen und mit Reem Alabali-Radovan, Carsten Schneider und Michael Keller drei weitere in Ostdeutschland aufgewachsene Personen unter den Parlamentarischen Staatssekretären/Staatsministern.

Diese Fakten sind Teil-Ergebnisse des groß angelegten Forschungsprojekts „Neue Eliten – etabliertes Personal?“ des Fachgebiets Public Management unter der Leitung von Prof. Dr. Sylvia Veit. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten dafür fast 3.600 Karriere-Biographien von der Kaiserzeit bis ins gegenwärtige Deutschland.

Das umfasst einerseits Mitglieder von Regierungen (politische Elite) und andererseits hohe Beamtinnen und Beamte in Ministerien (Verwaltungselite). Die zentralen Fragen dabei: Inwiefern wurde Spitzenpersonal in zentralstaatlichen Ministerien nach politischen Umbrüchen beibehalten oder ausgetauscht? Wie setzte es sich zusammen?

Ein besonderer Teil der Elitenveränderung: Die Emanzipation der Frauen

Eine Teiluntersuchung widmete sich dabei der Zeit nach der Wiedervereinigung. In anderen Aspekten, so ein weiterer Befund, zeigt sich in dieser Phase durchaus Wandel in der Verwaltungselite. Beispielsweise waren die Spitzenbeamten der BRD bis Ende der 1990er Jahre fast ausschließlich männlich.

In der letzten Amtszeit von Helmut Kohl betrug der Frauenanteil unter Spitzenbeamten weniger als 2 Prozent, seit Ende der 1990er Jahre kam es dann zu einem Anstieg von rund 7 Prozent unter Gerhard Schröder bis zu mehr als 20 Prozent in der dritten Amtszeit Merkels.

Unter der neuen Regierung ist der Frauenanteil unter den Staatssekretären mit deutlich über 40 Prozent so hoch wie nie zuvor. Im Laufe der Zeit ist außerdem der traditionell sehr hohe Juristenanteil etwas gesunken (von mehr als zwei Dritteln in den Adenauerjahren auf immer noch knapp 50 Prozent in den letzten Regierungsperioden) und der Anteil von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern mit keiner oder sehr wenig Verwaltungserfahrung angestiegen.

Zudem ist die Fluktuation in den Ämtern größer geworden: Spitzenbeamtinnen und Spitzenbeamte bleiben heute im Schnitt kürzer in der Verwaltungselite als in früheren Jahrzehnten.

Ein Osten ohne Elite?

Eine weitere Teiluntersuchung des Forschungsprojektes widmete sich der DDR. Demnach fiel der politische Neustart in Ost- und Westdeutschland nicht nur politisch, sondern auch hinsichtlich soziodemographischer Merkmale der Regierungsmitglieder höchst unterschiedlich aus. Interessant sind beispielsweise die Daten zum Bildungsniveau.

Während dieses unter BRD-Regierungsmitgliedern schon immer sehr hoch war, zeigte sich in der DDR mit der Zeit eine deutliche Veränderung: In den Anfangsjahren der DDR hatte mehr als die Hälfte keinen Hochschulabschluss; das entsprach durchaus dem Ideal des Arbeiter- und Bauernstaates. Doch zum Ende der DDR hatten fast alle Regierungsmitglieder studiert und viele waren sogar promoviert.

Das von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien geförderte Forschungsprojekt „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“ lief seit 2017 und wurde nun abgeschlossen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahmen dabei besonders die Systemumbrüche in den Blick und die Frage, ob und wie sich dadurch die Zusammensetzung des politischen und administrativen Spitzenpersonals änderte: also den Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus, vom NS-Staat zu DDR und Bundesrepublik sowie die Wiedervereinigung 1990.

Vor einiger Zeit hatte die Forschungsgruppe bereits Ergebnisse bekannt gemacht, nach denen im Politik- und Verwaltungsapparat der Adenauerzeit wenige überzeugte Nazis, aber viele Mitläufer und nur wenige Widerständler aktiv waren.

Gerade die Forschungen zur politischen Elite der jungen Bundesrepublik zeigen, dass der Elitenwechsel damals nicht annähernd so rigoros erfolgte wie der ab 1990 in Ostdeutschland.

„Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die junge Bundesrepublik sich in beträchtlichen Teilen auf ein politisches und administratives Spitzenpersonal stützte, das sich zuvor mit dem Dritten Reich arrangiert hatte“, kommentierte Prof. Dr. Sylvia Veit, die an der Universität Kassel das Fachgebiet Public Management leitet, die Ergebnisse zur alten Bonner Elite.

Ausgewertet wurden für das Projekt die Biographien aller Personen, die 1913, 1920, 1927, 1934, 1939 oder 1944 sowie seit 1949 Regierungsmitglied oder Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs, der Bundesrepublik bzw. der DDR waren (Politikerinnen und Politiker) oder eine leitende Funktion in einem Ministerium der obersten staatlichen Ebene hatten (politische Beamtinnen und Beamte). Erhoben wurden soziodemographische Merkmale, der Bildungs- und Berufsweg, politische Aktivitäten sowie die Systemnähe. Besonders aufschlussreich war die Aktenarbeit an mehreren Standorten des Bundesarchivs.

Eine Frage der Netzwerke

Während viele Netzwerke der alten politischen Eliten in der Bundesrepublik nach 1949 noch intakt waren und die Karrierewege die alten blieben, ist im Osten beides ab 1990 gekappt worden. Vertreter der alten (SED-)Elite verschwanden fast komplett aus politischen Spitzenämtern, die in weiten Teilen von Personal aus den alten Bundesländern besetzt wurden. Und neue „Nachwuchsschmieden“ für ostdeutschen Politiknachwuchs entstanden auch nicht. Die Neuen im Amt brachten ihre alten Netzwerke mit.

Die Ostdeutschen entschieden zwar durch ihr Wahlverhalten immer wieder auch Bundestagswahlen mit. Aber dabei profitierten immer wieder Parteien, die ihr Spitzenpersonal vor allem im Westen rekrutieren, wo sie auch ihre stärksten Landesverbände haben – so wie die CDU oder die FDP.

Dass sich daran nichts geändert hat, liegt auch an den mitgliederschwachen ostdeutschen Kreisverbänden der demokratischen Parteien, die selten einmal Kandidat/-innen hervorbringen, die sich erfolgreich um den Bundesvorsitz der Partei bewerben können. Ausnahmen bis jetzt sind Angela Merkel (CDU) und Matthias Platzeck (SPD). Die Linkspartei ist dabei eher eine Ausnahme, denn im Bund war ihr bis jetzt jede Möglichkeit, Teil eines Regierungskabinetts zu werden, verbaut.

Und das trifft auf die AfD mit ihrem rechtspopulistischen Profil erst recht zu. Sie gewinnt zwar in jüngeren Wahlen erhebliche Stimmenanteile in der ostdeutschen Provinz, wirkt aber eher wie ein Honigtopf für das immer wieder kolportierte ostdeutsche Gefühl, nicht mitreden zu dürfen und nicht Teil des Ganzen zu sein.

Und damit auch kein Teil der politischen Elite und ihrer Themen. Womit auch diese Studie im Grunde bestätigt, wie rudimentär die Elitenforschung in Deutschland noch immer ist. Und wie wenig man tatsächlich über die Strukturen von Elitenbildungen weiß. Viel weniger als etwa in England, über dessen jahrhundertelang stabile Elitenbildung ja James Hawes in „Die kürzeste Geschichte Englands“ geschrieben hat.

Ob eine Quote für Ostdeutsche in Spitzenämtern daran etwas ändern würde, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage.

Die Studienergebnisse zur Elitenforschung an der Uni Kassel findet man hier.

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