Natรผrlich darf man sich รคrgern, wenn man in deutsche Buchhandlungen geht. Richtig laut, denn was da das Angebot dominiert, ist in manchen Monaten einfach nicht mehr auszuhalten. Massenware stapelweise. Vielfalt? Fehlanzeige. Das betrifft auch das feine, liebevolle Segment der englischen Literatur. Frรผher war das mal in Verlagen wie Haffmans zu Hause. Ein Bursche namens Kipling zum Beispiel.

2001 meldete Gerd Haffmans Konkurs an fรผr seinen Verlag, in dem auch liebevolle Neuรผbersetzungen der groรŸen Alten der englischen Literatur erschienen โ€“ neben Arthur Conan Doyle und Laurence Sterne eben auch Kipling โ€“ in der farbenfrohen รœbersetzung von Gisbert Haefs. Die Titel tauchen heute in anderen Reihen in anderen Verlagen ab und zu wieder auf โ€“ aber nicht alle. Haffmans Erbe ist wie ein groรŸes Bergwerk. Manches darin blieb aber unbeendet โ€“ so wie die engagierte Kipling-Ausgabe.

Aber wer interessiert sich schon fรผr Kipling, kรถnnte man fragen. Ist der nicht endgรผltig im โ€œKlassikerโ€-Regal gelandet und damit tot? Wer liest noch โ€œKlassikerโ€?

Kinder tun es. Denn wer in seinem frรผhen Lesealter nicht Mowgli in den Dschungelbรผchern begegnet ist, der hat was verpasst.

Anglisten lesen ihn โ€“ das sind die Wissenschaftler, die sich ganz speziell mit der englischen Literatur beschรคftigen. An der Uni Leipzig sind sie ganz stark. Jรผngst hat sich Maria Fleischhack mit einer anderen Legende der englischen Literatur beschรคftigt: Sherlock Holmes.

Jetzt hat Prof. Stefan Welz seinen โ€œKlassikerโ€ am Schlafittchen gepackt. Zu seinem Lehrstoff gehรถrt Rudyard Kipling schon lange. Er unterrichtet Englische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Da kommt man an Kipling nicht vorbei. Und auch nicht an der Tatsache, dass es bislang keine deutsche Kipling-Biografie gab. Im englischsprachigen Raum gibt es dutzende. Und die Briefe. Und mehrere Werkausgaben und literaturwissenschaftliche Arbeiten. Vielleicht sind es nur die Deutschen, die so nรคrrisch sind, dass sie jeden Autor, der lรคnger als 10 Jahre tot ist, ins โ€œKlassikerโ€-Regal abschieben. Das Ergebnis ist, dass von den groรŸen Alten immer wieder dieselben Titel dort herumstehen โ€“ eine aktuelle Auseinandersetzung aber nicht mehr passiert. Dafรผr heiรŸen im platzenden Belletristikregal mittlerweile die meisten Autoren Jones, Miller, Williams, gibt es dieselben brรคsigen Stoffe in unzรคhligen ungenieรŸbaren Varianten.

Dabei gibt es auch und gerade bei den Alten jede Menge zu entdecken. Und Kipling ist selbst heute kein Alter, auch wenn Mowgli auch schon 120 Jahre auf dem Buckel hat und keine Notiz zu Kipling ohne den Verweis auf seinen unรผbersehbaren Imperialismus auskommt. Auch Welz kommt um das Thema nicht herum. Aber man begreift Autoren nun einmal nur, wenn man sie in ihrer Zeit sieht, in ihrem Lebensumfeld und in ihren Themen.

Kann man Kipling seine imperialistischen Tรถne ankreiden? Kann man. Wenn man ignoriert, dass der englische Imperialismus bis 1902 die vorherrschende Geisteshaltung im Empire war, die groรŸe politische Politur, mit der das damals mรคchtigste Weltreich sich sonnte im Glanz seiner Macht. Kipling erlebte ja weite Teile seiner Kindheit in Indien, der damals wertvollsten englischen Kolonie. Und zeitgleich dominierte der Traum von der imperialen (Welt-)Herrschaft auch in anderen Lรคndern. In Deutschland nahm er mit der Reichseinigung von 1871 preuรŸisch-kriegerische Zรผge an, die auch die deutsche Literaturelite vorm 1. Weltkrieg in imperialistischen Tรถnen schwelgen lieรŸ. Auch Frankreich war โ€“ trotz der 1871er Niederlage โ€“ nicht frei von imperialem Gedรถns. Noch hatte man auch dort gewaltige Kolonien. Und die Konkurrenz mit dem aufstrebenden Deutschen Reich bestimmte die Berichterstattung immer mehr, die Tรถne verschรคrften sich, die Rรผstung wurde angekurbelt. Und bei seinen Reisen in die USA konnte auch Kipling entdecken, dass mit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 auch die USA begannen, sich als imperialistische Macht zu definieren.

Dass man die meisten Bรผcher, die in diesen Tonlagen geschrieben wurden, heute in keiner normalen Bibliothek mehr findet, hat auch damit zu tun, dass dieses Denken in den meisten Lรคndern spรคtestens seit der Katastrophe des 1. Weltkrieges in Verruf gekommen ist. Unlesbar ist das Meiste eh.

Literarischer Rabauke

Und deshalb ist es umso รผberraschender, dass gerade Kipling noch prรคsent ist. Und zwar nicht nur mit den beiden Dschungel-Bรผchern, die ihn weltweit berรผhmt gemacht haben, sondern auch mit zahlreichen Erzรคhlungsbรคnden aus seiner Frรผhzeit, mit dem groรŸen Indien-Roman โ€œKimโ€ oder seinen launigen โ€œGenau-so-Geschichtenโ€. Denn der junge Autor, der in einem weltumspannenden englischen Empire nicht nur die Zukunft sah, sondern auch die Grundlage fรผr den zivilisatorischen Fortschritt, war auch gleich mit seinen frรผhen Geschichten ein moderner Erzรคhler. Einer, der im viktorianisch geprรคgten London anfangs durchaus als literarischer Rabauke,  regelrecht als Hooligan betrachtet wurde.

Seine Geschichten, die sich nicht nur am reichen Reservoir der als durchaus exotisch empfundenen Welt des kolonialen Indiens bedienten, sondern auch freimรผtig mit dem Slang der Einwohner und der britischen Soldaten umgingen, wirkten auf die Einen wie ein Frontalangriff auf die dominierende, รคsthetisierende Literatur der Zeit, auf die anderen erfrischend neu, lebendig, phantastisch und ehrlich. Denn Kipling hatte keine Scheu, auch die einfachen Soldaten, Dienstboten, Arbeiter und Dirnen auftreten zu lassen. Berรผhrungsรคngste kannte er nicht. Im Gegenteil: Nicht umsonst gelang es seinem Vater, den 17-Jรคhrigen schon bei einer der maรŸgeblichen englischsprachigen Zeitungen in Indien unterzubringen: Der junge Mann konnte plastisch beschreiben, beherrschte die lebendigen Dialoge, und was er noch nicht konnte, lernte er in der direkten journalistischen Praxis, wo er oft genug รผbers Ziel hinausschoss und Kontroversen auslรถste.

Imperiale Visionen

An mehreren Stellen des Buches versucht Stefan Welz, das nicht ganz so einfache Verhรคltnis von Kipling zum Empire zu klรคren. Und das gelingt ihm auch recht anschaulich. Denn wenn wir ehrlich sind, dann ist auch unsere Gegenwart im 21. Jahrhundert noch immer vom imperialen Weltverbesserungsdenken des 19. Jahrhunderts geprรคgt. Es schwingt auch in der tรคglichen Berichterstattung noch mit, dass man sich aus eurozentristischer Sicht noch immer als Zivilisationsbringer begreift, als Vertreter einer hรถheren technischen und politischen Kultur. Eine Grundhaltung, die mit verantwortlich ist dafรผr, dass es keine Kommunikation auf Augenhรถhe mit all den Lรคndern gibt, die wir heute so snobistisch Dritte Welt, Schwellenlรคnder, Entwicklungslรคnder oder รคhnliches bezeichnen.

Die Wahrheit ist: Es steht uns nicht zu, Kipling fรผr seine imperialen Visionen zu verurteilen. Er hat sie nur laut und unzensiert verรถffentlicht. Und die damalige Presse, auch die damalige Regierung, nahm diese Schรผtzenhilfe eines Autors, der den weiรŸen Mann als groรŸen Zivilisationsbringer feierte, dankend an.

Der Bruch kam erst mit dem 1. Weltkrieg. Einen ersten Riss gab es schon im zweiten Burenkrieg von 1899 bis 1902, als den Briten in Sรผdafrika die Grenzen ihrer Herrlichkeit gezeigt wurden und Lord Kitchener als blutiger Schlachter in die Geschichtsbรผcher einging. Das waren die Jahre, mit denen die Glorifizierung des British Empire, die das ganze lange Viktorianische Zeitalter dominierte, einen Knacks bekam. Und das blutige Gemetzel des 1. Weltkrieges war zumindest in England eine Zeitenwende. Danach fielen die alten imperialen Tรถne Kiplings, der noch immer glaubte, es wรคren die englischen Ingenieure, Erfinder, Offiziere und Kolonialbeamten, die berufen wรคren, eine weltumspannende Zivilisation nach englischem Muster zu schaffen, sehr unangenehm auf. Welz beschreibt es als Niedergang, den der alternde Autor noch zu Lebzeiten miterlebte.

Aber tatsรคchlich konnte Kipling immer dann an seine besten Geschichten anknรผpfen, wenn er sich wieder auf das reiche Material seiner Kindheit und Jugend beziehen konnte, das zwar immer in die Erfahrungen des englischen Kolonialreiches eingebettet war โ€“ aber das auch immer von der intensiven Begegnung der Kulturen berichtet, der Faszination des Anderen, der fremden Lebenswelt und der fremden Religion. Tatsรคchlich hat er mit seinen Geschichten den Reichtum der Welt in die englischen Lesestuben gebracht. Und seine besten Geschichten schlagen Brรผcken, nehmen die Leser in diese Welt mit, die sich aus anderen Traditionen, einer anderen Geschichte, anderen religiรถsen und kulturellen Wurzeln speist.

Welz geht auf mehrere Widersprรผche in Werk und Leben Kiplings ein. Der wesentliche ist fรผr ihn, dass dieser Mann, der in seiner imperialen Denkweise im hohen Alter wie ein Fremdkรถrper wirkte in seiner Heimat England, dennoch einer der modernsten und lebendigsten Erzรคhler der Zeit war, Vieles vorweg nahm, was sich erst Autoren der nรคchsten und รผbernรคchsten Generation an neuen Erzรคhlweisen aneigneten.

Und es ist diese ursprรผngliche Neugier, die seine (guten) Geschichten so vielschichtig und lebendig macht. Und dort ist sie auch immer mit dem Respekt vor seinen Figuren verbunden, auch wenn er die โ€œMacherโ€ stets besonders ehrfรผrchtig schildert โ€“ auch das ein Wesen der Zeit, die gerade besessen war vom Glauben an die Technik und die Wunder der Zivilisation. Immerhin waren es die Kolonialmรคchte, die รผberall, wo sie tรคtig waren, Eisenbahnstrecken bauten, Staudรคmme und gigantische Kanรคle. Der imperialistische Zugriff auf die Welt war โ€“ neben dem kriegerischen โ€“ auch immer ein technischer und ein wirtschaftlicher, denn am Ende ging es immer um โ€œMรคrkteโ€, Rohstoffe und billige Arbeitskrรคfte.

Und auch da sollten wir ehrlich sein: Daran hat sich bis heute auch nichts geรคndert.

Nur dass die Apologeten dieses Denkens heute nicht mehr so offen schwadronieren wรผrden, wie es Kipling in seinen, vor allem politischen Artikeln, Gedichten und Geschichten tat. Die Entfremdung von seinen Lesern passierte โ€“ ausgelรถst durch die englischen Kriegserfahrungen โ€“ eher schleichend. Und der gealterte Kipling, der sich eher den (alten) Eliten zugehรถrig fรผhlte, machte die Entwicklung nicht mehr mit. Das ist seine Tragik.

Aber gerade das macht die Lebendigkeit seiner frรผhen Geschichten und auch noch einige seiner spรคten so verblรผffend. Seine Fรคhigkeit, mit Phantasie und Atmosphรคre zu erzรคhlen, hat er nie verloren. Es ist eher eine Aufgabe fรผr Literaturdetektive, herauszufinden, warum er nach 1918 die Kurve nicht mehr kriegte, welche Rolle dabei seine persรถnlichen, teils sehr leidvollen Erfahrungen spielten, seine Freunde und jene Menschen, die er vielleicht dafรผr halten wollte, denn als berรผhmter Autor war er auch eingewoben in die Welt der Mรคchtigen seiner Zeit.

Manches ist nicht mehr zu entschlรผsseln, weil er im hohen Alter selbst daran ging, die Dokumente seines Lebens zu vernichten, um die Deutungshoheit รผber seinen Nachruf zu behalten. Auch das ist verstรคndlich, aber eben auch ein Grund dafรผr, dass sich Forscher an ihm die Zรคhne ausbeiรŸen.

Da aber die Forschung in den englischsprachigen Lรคndern trotzdem weiterging, kann Stefan Welz auf eine Menge Material zurรผckgreifen, mit dem er das Leben dieses Autors neu beleuchten kann, einige Fragen beantworten, andere zumindest andeuten kann. Und am Ende steht natรผrlich die Erkenntnis, dass weder dieser Autor ins โ€œKlassikโ€-Regal gehรถrt, noch das Denken seiner Zeit so tot ist, wie gern behauptet wird. Die Tragik dabei war eher, dass keine der damaligen imperialen Mรคchte jemals eine ehrliche gesellschaftliche Debatte รผber das imperiale Erbe gefรผhrt hat. Bis heute nicht. Und das ist leider die Ursache fรผr viele Flรคchenbrรคnde, die uns heute so beschรคftigen.

Stefan Welz โ€œRudyard Kipling. Im Dschungel des Lebensโ€œ, Lambert Schneider, Darmstadt 2015, 29,95 Euro

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