Wie wird man eigentlich Pazifist? Und was ist eigentlich Pazifismus? In der Ukraine tobt ein Krieg. Die Debatte in Deutschland wird von Waffenlieferungen bestimmt, von Forderungen nach mehr Lieferungen, von Warnungen, dass es zu viel wäre, man dürfe den russischen Diktator nicht reizen. Andere fordern gar einen Stopp der Lieferungen. Des lieben Friedens willen. Ein Thema, das Heribert Prantl umtreibt. Und manchmal erschrickt er auch.

Der Jurist und Journalist war 25 Jahre lang Leiter der innenpolitischen Redaktion der „Süddeutsche Zeitung“. Da gehörten geschliffene Kolumnen zu seinem täglich Brot. Das war noch eine Zeit, als Meinungskolumnen eine Haltung voraussetzten – eine ethische zumal. Und ein grundlegendes Wissen über die Welt. Und das Menschsein. Da ist man direkt bei Prantl, so wie ihn die Leser auch in „Mensch Prantl“ kennenlernen durften. Der Mensch hat eine Herkunft und eine Erfahrung. Und er zweifelt an sich. Und zwar grundlegend.

Erst dann versteht man die Irrtümer und Ängste der Anderen, wen man aus den eigenen Irrtümern etwas gelernt hat. So ist es auch mit dem Frieden, diesem schönen Abstraktum, das man als Fahne vor sich her tragen kann. Das war sieben Jahrzehnte lang in Deutschland ganz einfach – zumindest im westlichen Teil davon. Im östlichen konnte man damit den Ärger der Mächtigen auf sich ziehen. Die Friedensbewegung der DDR und ihr wirkmächtiges Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ erwähnt Prantl natürlich auch. Auch weil es ein biblisches Symbol ist. Und ein widersprüchliches. Denn in der Bibel findet man auch das Gegenteil.

Die Widersprüche des Menschseins

Nicht nur die Bibel ist eine Quelle für Sätze, die jederzeit missbrauchbar sind. Zumindest für Leute, die nie die ganze Geschichte lesen. Und nur ihre Vorurteile pflegen. Und Prantl kennt seine Bibel. Aus seiner christlichen Überzeugung macht er kein Hehl. Sie ist ein verlässliches Koordinatensystem, wenn man die Widersprüche wahrnimmt und die Not, aus der auch die Heiligen handeln. Auch ein Jesus. Wer die Bibel ernst nimmt, sieht darin alle Widersprüche menschlichen Daseins und Agierens. Beispielhaft ruft Prantl unter anderem auf: die Bergpredigt, Noah und die Arche (und den narzisstischen Gott, der das Drama erst angerichtet hat), Abel und seinen Bruder Kain (der ihn erschlägt, weil er neidisch ist).

Man kann mit diesen biblischen Geschichten lernen, das Widersprüchliche im menschlichen Wollen und Tun zu erkennen. Auch in der aktuellen Debatte, die natürlich jeder anders sieht. Auch, weil jeder nur seinen Ausschnitt der Medienberichterstattung sieht. Die einen hängen fasziniert vor den ganzen Talkshows, in denen selbstgefällige Politiker/-innen der Bundesregierung vorwerfen, sie täte zu wenig, liefere immer zu wenig Waffen. Und in  der nächsten Talkshow jammert die andere Truppe, Deutschland dürfe sich nicht einmischen – die ganzen Waffenlieferungen zögen Deutschland in den Krieg. Frieden sei das Gebot der Stunde, sofortiger Waffenstillstand und Verhandlungen mit Putin.

Man merkt schon: Schon die Aufreihung macht einen wütend. So wütend, wie die ganze enthemmte Diskussion seit vielen Monaten ist. Und jede und jeder trägt seine Forderungen in die Welt, als müsste er oder sie sie gar nicht begründen. Eine Fortsetzung der Debatte, die man zuvor schon in der Corona-Zeit erleben musste, wie Prantl richtig feststellt.

Der in seinem Buch aber genau deshalb keine Rezepte gibt. Sondern die Gelegenheit nutzt, um über Pazifismus nachzudenken – und zwar nicht nur den aus der Bergpredigt, sondern den sehr jungen Pazifismus, der im Schatten der Aufrüstung der europäischen Staaten schon im späten 19. Jahrhundert entstand, als die Aufmerksamen und Wachen sehr wohl merkten, dass das Säbelrasseln in den Zeitungsspalten direkt hin führte auf den größten und schrecklichsten aller Kriege. Als Bertha von Suttner 1889 ihren Roman „Die Waffen nieder!“ veröffentlichte, brachte sie dieses Wissen auf den Punkt. Und blieb unerhört. Denn Professoren, Schriftsteller, Lehrer, Politiker sowieso lärmten lieber weiter, dichteten schwülstige Kriegslieder und erklärten die Nachbarvölker zu Erbfeinden.

Wie Feindbilder produziert werden

Logisch, dass Prantl eines der eindringlichsten Kapitel in seinem Buch auch der Analyse widmet, wie Feinde und Feindbilder gemacht werden. Von Eliten, die damit Macht untermauern und die Muschkoten dazu nutzen, mit Gebrüll über den Gegner herzufallen. Oder über die Schwächeren im Land. Denn das funktioniert auch in der kleinen Politik, da, wo Politiker die „Anderen“ definieren, die, die nicht dazugehören sollen und denen das Menschsein abgesprochen wird. Die deutschen Nazis haben genau dieses Prinzip auf die Spitze getrieben.

Das muss erwähnt werden, weil es auch den Blick auf die zunehmend schrofferen Debatten in Deutschland lenkt, wo die Rechthaberei immer lauter wird, wenn die „Anderen“ nur den Mund auftun. Und zur schäbigen Bilanz gehört eben auch, dass viele Medien diese Aufschaukelei der Radikalität mitmachen. Und mitbrüllen. Und mit-verurteilen. Oft nicht einmal bedenkend, dass nicht nur das Friedensgebot zentraler Bestandteil des Grundgesetzes ist (worauf Prantl sehr ausführlich eingeht), sondern auch die Meinungsfreiheit: Es sind nicht eingebildete Chefkommentatoren, die bestimmen, was gesagt werden darf.

Und in Deutschland darf – anders als in der Wilhelminischen und der Nazi-Zeit – vom Frieden geredet werden, von Abrüstung sowieso. Auch im Verbalen. Und genau so ist eigentlich Prantls Essay auch gedacht: Rüstet ab! Hört auf, den Anderen das Reden zu verbieten. Hört zu – und haltet aus.

So wie die wirklichen Pazifisten in der deutschen Geschichte immer ausgehalten haben – sie aber fast keiner kennt, weil die Lehrbücher und Schulbücher lieber die Kriegsgeschichte erzählen als die der Pazifisten. Denn die sind ja immer unterlegen, oder? Jedenfalls werden sie von den Mächtigen immer zum Feind erklärt. Denn sie „zersetzten die Wehrkraft“, „verweichlichten die Nation“ … Jedenfalls stellten sie die waffenstarrende Drohkulisse der Mächtigen immer in Frage.

Und dazu brauchte es Mut. Immer wieder.

Der Mut zum Pazifismus

Prantl zählt einige von denen auf, die allein in der jungen Weimarer Republik von rechtsradikalen Tätern umgebracht wurden, weil sie gegen den Krieg gesprochen hatten. Darunter – was heute sehr überrascht – richtig Linke wie Liebknecht, Luxemburg und Leviné. Es ist bis heute fast vergessen, dass das große Schisma der deutschen Linken der Krieg war. An den Kriegskrediten für Kaiser Wilhelm schieden sich die Geister – und zerspaltete sich die SPD. Und das ist bis heute nicht wieder zusammen gekommen.

Und Prantl ist auch auf die Grünen sauer. Ganz unübersehbar eine enttäuschte Liebe. Denn auch die Grünen sind eine Abspaltung der Linken in einer Situation gewesen, als es um Krieg und Waffen ging – nämlich beim NATO-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre. Die Grünen starteten als Friedenspartei. Und stehen nun am Pranger, weil sie die Waffenlieferungen in die Ukraine befürworten.

Eine Stelle, an der man in Zwiespalt gerät: Haben sie damit ihre Wurzeln verraten?

Odre gehört zum Pazifismus nicht auch, dass man dem Überfallenen hilft, ihm Waffen gibt, damit er sich gegen den Kriegsanstifter wehren kann? Eine durchaus wichtige Frage, die auch in vielen Abschnitten der Bibel Thema wird, die von Gewalt nur so strotzen. Die aber eben auch von einem Land erzählen, das jahrhundertelang Spielball rücksichtsloser Mächte war.

Die Verachtung für die Friedlichen

Der Überfall der Hamas auf israelische Siedlungen funkte mitten hinein in Prantls Arbeit an diesem Buch. Also thematisiert er auch das – mitsamt unserem zwiespältigen Verhältnis zu Israel und Palästina, das wie so oft an Mangel an Vorwissen leidet. Auch über die Aufschaukelung des Konflikts, der eine jahrzehntelange Vorgeschichte hat. Das macht die Positionierung nicht leichter. Schon gar nicht die in einem überzeugten Pazifismus. Oder gar einem „militanten Pazifismus“, wie es Erich Maria Remarque viele Jahre nach seinem Welterfolg mit „Im Westen nichts Neues“ für sich sagte. Denn als „Im Westen nichts Neues“ 1928 erschien, empfand Remarque seinen Roman keineswegs als pazifistisch.

Doch genau so wirkte das Buch. Und übertraf damit sämtliche in dieser Zeit erschienen Bücher zum Pazifismus. Millionen Leser fanden sich darin wieder – mitsamt der ganzen Sinnlosigkeit des Krieges, die sich dort erweist, wo die in Uniform gesteckten Männer im Schützengraben verrecken. Wofür eigentlich? Die vollmundigen Parolen, mit denen die Herrschenden die jungen Männer in ihre Kriege schicken, entpuppen sich im Gemetzel als falsch, verlogen, sinnlos.

Prantl erzählt noch von einem anderen Pazifisten, der heute ebenfalls – zu unrecht – fast vergessen ist: Ernst Toller. Mitglied der Münchner Räterepublik und nach deren Niederschlagung wegen Hochverrats angeklagt. Er wird für Prantl zu einem wichtigen Exempel, weil ihm als Zeuge der berühmte Philosoph Max Weber die „absolute Lauterkeit eines radikalen Gesinnungsethikers“ attestierte. Womit Prantl bei Webers bis heute rezipierter Teilung in eine Gesinnungsethik und eine Verantwortungsethik wäre – die ihrerseits viel Unheil angerichtet hat.

Denn Verantwortung ohne Gesinnung gibt es nicht. Kann es nicht geben. Und Ernst Toller lebte das vor, verweigerte seine eigene Amnestie, als den anderen Verurteilten der Räteregierung eine solche verweigert wurde. Und er blieb sich treu, schrieb tapfer gegen den aufkommenden Nazismus an. Aber er erlebte eben auch, wie er auch als Pazifist ins Fadenkreuz der Nazis geriet, die ihn 1933 ausbürgerten und seine Bücher verbrannten.

Und dass die Verachtung der Pazifisten auch nach dem Krieg der Nazis nicht endete, macht Prantl u.a. an Heiner Geißlers Spruch deutlich, der „Pazifismus der dreißiger Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht“.

Konservative Politiker machen gen die Friedlichen verantwortlich für den Unfrieden. So steht die Welt auf dem Kopf.

Zeit der geduldigen Diplomaten

Und natürlich sucht man nach dem Vorschlag, den Prantl machen kann in Hinblick auf den Pazifismus und die Tragödie in der Ukraine: Was tun?

Und er kommt auf einen Punkt, der gern niedergeschrien wird. Und das ist nicht die dummdreiste Forderung, die Waffenlieferungen einzustellen oder sofort eine Waffenruhe anzuordnen. Sondern es ist die Frage nach Verhandlungen. Genau jetzt. Beharrlich und immer wieder. Und Prantl hat gute Beispiele dafür, dass das schon immer der eigentliche Kern eines aktiven Pazifismus war. Denn genau das führte in Münster und Osnabrück nach 30 Jahren Krieg endlich zum Westfälischen Frieden, den vor allem ein unermüdlicher Vermittler zustande gebracht hat, der jahrelang nichts anderes tat, als die verfeindeten Parteien nach und nach an einen Tisch zu holen: der italienische Diplomat Alvise Contarini.

Und dabei ging es eben nicht darum, einen Schuldigen zu finden und jemanden zu bestrafen, sondern alle Beteiligten auf eine gemeinsame und tragfähige Lösung hin zu verpflichten. Und damit – zumindest für ein paar Jahrzehnte – einen Frieden zu schaffen. Denn darum geht es in Prantls Sicht auf den Pazifismus. Und gerade da, wo er auf den Ausspruch von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zu sprechen kommt, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, wird Prantl deutlich. Gerade gegenüber einem Mann, der jahrelang Bürgermeister der Remarque-Stadt Osnabrück war. Wie kommt ein Pistorius jetzt auf einmal darauf, Deutschland wieder „kriegstüchtig“ machen zu wollen?

Wo doch das eigentliche fehlt, ganz unübersehbar. Denn die Geschichte des Pazifismus zeigt, dass die viel größere und schwerere Aufgabe ist, den Frieden zu schaffen und zu bewahren. Das ist die eigentliche Herkulesaufgabe. Aber die löst man nicht mit Waffen, sondern mit Geduld und starken Nerven.

Wer Frieden will, baut keine Mauern

Und dabei plädiert Prantl eben nicht für die Haltung eines Ghandi, sondern eher für die eines Martin Luther King: Reden, Fordern, Verhandeln. Und wenn man selbst mit Diktatoren sprechen muss.

Womit er übrigens auch auf die heute so bewusst falsch dargestellte Ostpolitik Willy Brandts zu sprechen kommt, die eben keine Appeasement-Politik war, sondern eine der beharrlichen Geduld, mit den ungeliebten Machthabern im Osten dennoch Fortschritte zu erreichen. Wer immer nur die Konfrontation sucht, erreicht nichts, sondern verbrennt nur die Erde, auf der man dazu gezwungen ist, gemeinsam zu leben.

Immer wieder zitiert er den Riss in der Welt, den es zu finden gilt, der das Unmögliche möglich macht. Es gibt nicht nur die eine Wahrheit, wie das auch in deutschen Zeitungskolumnen oft genug zu lesen ist. „Wer in der Demokratie Alternativlosigkeit behauptet, der will in Wahrheit die Wahrheit für sich pachten und setzt sich selbst ins Unrecht, weil er damit sagt, dass er nicht diskutieren will“, schreibt Prantl. Und wird dann noch deutlicher: „Wenn über den richtigen Weg zum Frieden gerungen wird, darf man dabei nicht rhetorisch Krieg führen.“

Auch nicht auf großer politischer Bühne. Denn den Krieg beendet man erst, wenn auch der Andere mit am Tisch sitzt. So wie Frankreich beim Wiener Kongress 1815 / 1816. Denn den Herrschenden damals war sehr wohl bewusst, dass es ohne Frankreich keine Friedensordnung in Europa geben wird. So wie es ohne Russland keine geben wird, egal, wer da regiert. Das Buch des Friedens (hier verweist Prantl auf Hugo Grotius) kann nicht nur von Abschreckung erzählen.

Den Frieden muss man vorbereiten

Es braucht also Verhandler, Strippenzieher, Diplomaten. Auch jetzt schon, wo ein Putin noch nicht einmal daran denkt, die Kriegshandlungen einzustellen. Es braucht Leute, die den Frieden vorbereiten. Mitten im Krieg. Eine gewaltige Aufgabe, gerade weil niemand weiß, wie die Lösung aussehen kann. „Die weiße Tauben sind müde“, zitiert Prantl ein berühmtes Lied, das vom Ende der Friedensbewegung erzählt. Aber vielleicht war diese Bewegung auch nie am Ende. Nur haben sich zu wenige Leute Gedanken darüber gemacht, wie man tatsächlich einen dauerhaften Frieden schaffen kann. Viele haben sich in der Illusion gewiegt, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wäre der Friede ganz von allein dauerhaft eingekehrt.

Ist er aber nicht. Die Mühen der Ebenen liegen nach wie vor vor uns. Es sind politische Mühen, natürlich. Das steht – wie Prantl betont – direkt im Grundgesetz, gleich im zweiten Artikel, auch wenn es die ganzen Möchegern-Falken nur zu gern ignorieren: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Das ist eine Handlungsaufgabe, an der gearbeitet werden muss. So, wie eine Kultur des Friedens immer eine kräftezehrende und oft genug undankbare Aufgabe ist. Aber eine zutiefst menschliche.

Heribert Prantl „Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen“; Heyne Verlag, München 2024, 20 Euro

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