Es ist die schlichte Wahrheit, dass viele Menschen überhaupt kein Herz für Tiere haben, schon gar kein Gefühl dafür, was ihr Verhalten für die Tiere in der freien Natur für dramatische Folgen hat. Nicht nur zu Silvester, wenn sie ihrer Knallfreude ungehemmten Lauf lassen. Aber eben auch zu Silvester. Auch in Leipzig. John McShultz schlüpft in diesem Buch einfach mal in die Rolle einer kleinen Amselfamilie. Stellvertretend.

Denn was die Vögel wirklich tun, sehen wir ja nicht. Irgendwo werden sie sich schon versuchen zu verkriechen und diesen Lärm irgendwie zu überleben.

Aber lebendig werden kann so eine Geschichte, wenn man den Tierchen einfach mal ein sehr menschliches Verhalten unterstellt, sich also regelrecht hineinversetzt in die Tiere und sich überlegt: Wie würden sie handeln, wenn sie Menschen wären? Zum Beispiel die Amseln, die ja auch in Leipzig ihr Zuhause haben: Mama Amsel, Papa Amsel und das Vogeljunge, das im Mai geboren wurde und natürlich noch nicht weiß, was für einen Höllenspuk die Menschen da jedes Jahr zu Silvester veranstalten.

Es gibt zwar auch Amseln, die zur Überwinterung auch Richtung Südfrankreich und Spanien aufbrechen. Aber die meisten bleiben hier, sind aber eben sehr still, wenn Amsel-Papa nicht gerade fröhlich pfeift in Frühling und Sommer.

Dieser Tag wird furchtbar werden …

John McShultz ist Musiker und Romanautor. 2022 haben wir hier seinen Roman „No Record Release“ besprochen. Ganz so wild geht es in seiner Kindergeschichten um Familie Amsel nicht zu. Sie ist schön im Großformat und im Großdruck gemacht, garniert mit Bildern von Bianca Wisseloo. Und tatsächlich ist es auch eine sehr menschliche Geschichte. Denn was für die Vögel gilt, gilt eigentlich auch für viele Menschen.

Oder um Mutter Amsel zu zitieren: „Dieser Tag wird furchtbar werden für uns. Es wird den ganzen Tag und die halbe Nacht immer wieder knallen, überall, und in einem Moment wird es so laut und so hell überall werden, dass du denkst, jetzt wird Tag, weil der Himmel ständig Lichtschlangen und grelle Blitze schleudert.“

Da wird nicht nur dem Vogeljungen Angst und Bange.

Aber seine Eltern sind erfahren. Sie wissen ja, was da kommt, und haben vorgesorgt: Für die schrecklichen wilden Tage wollen sie die Stadt verlassen und vorübergehend bei Tante Klara auf dem Dorf unterkommen. Klara hat selbst keine Kinder und freut sich, dass sie Besuch bekommt. Doch Amseln sind keine Langstreckenflieger. Auch das erklärt der Autor schön anschaulich.

Für Familie Amsel ist schon dieser Ausflug aufs Dorf eine echte Herausforderung. Es ist also auch eine Geschichte über Zähne- bzw. Schnabelzusammenbeißen und Durchhalten, gerade dann, wenn die Flügel schmerzen.

Und eigentlich auch eine Geschichte über die Gefühle des Autors, der mit der Lärmerei der Mitmenschen auch nichts anfangen kann. Das spricht wohl auch für seine eigene Sicht auf die Gedankenlosigkeit der Leute: „Es kommt wieder der Tag, an dem die Menschen verrückt spielen.“

Stadt oder Dorf?

Weshalb auch manche Menschenfamilie in dieser Zeit die Koffer packt und lieber ein paar Tage bei Tante Klara auf dem Dorf verbringt, um mitten in der Silvesternacht die „wundervolle Stille“ genießen zu können. Man kommt nämlich auch ganz leise und achtsam ins neue Jahr. Gern auch mit leckeren Fliegenlarven, die Tante Klara gesammelt hat, echten Bio-Bauern-Fliegenlarven.

Wobei sich zwischen Mutter Amsel und Klara auch noch die alte, stets freudig erneuerte Debatte entspinnt darüber, wo es denn eigentlich am schönsten ist. Und da stellt sich dann aus Sicht der kleinen Amselfamilie schnell heraus, dass das Leben in der Stadt eigentlich schön ist – bis auf diese durchgeknallten Tage am Jahresende.

Aber hat Mutter Amsel recht, wenn sie die vielen Lampen in der Stadt lobt, in die die Fliegen, Mücken und Schnaken ganz von allein hineinfliegen? Da muss man nur den Schnabel aufmachen – und schon ist man satt? „Da setzt du dich davor, und schnapp, sind se im Schnabel!“

Über vielleicht ist Mutter Amsel auch nur ein bisschen überdreht nach dem langen Flug. Da sieht man den Alltag in der Stadt manchmal viel leichter und rosiger, als er auch für Amseln ist. Für Musiker und Schriftsteller ja sowieso. Nix da mit einfach Schnabelaufsperren. Jede Mücke will erst mal gefunden und gefangen sein. Und bevor man „Schnapp“ macht, klingelt auch noch das Finanzamt.

Neugier wecken auf die Tiere in der Stadt

Es ist eine sehr kindgerechte Sicht auf die Amselwelt, die McShultz hier erzählt. Kindergeschichten können nicht alle Probleme erklären. Aber sie helfen, ein Verständnis für unsere gefiederten Mitbewohner in der Stadt zu entwickeln, ihre Präsenz überhaupt einmal wahrzunehmen und ein Bild davon zu entwickeln, wie es ihnen mit uns Menschen eigentlich geht.

Denn so beginnen nun einmal Kinder auch ein Verständnis für die lebendige Vielfalt um uns herum zu entwickeln, um die wir uns schon lange richtig große Sorgen machen müssen.

Einige von uns haben schlicht kein Herz für Tiere, sehen nur ihr eigenes, feierfreudiges Ego. Und zerstören dabei immer mehr Lebensräume für all die Tiere, deren Verschwinden eben auch davon erzählt, dass es um die Natur um uns herum überhaupt nicht gut bestellt ist.

Da kann man gar nicht früh genug beginnen, Kinder aufmerksam zu machen auf die Tiere draußen auf Straßen und in Parks. Und ihnen die Neugier mitzugeben auf eine lebendige, dringendst zu erhaltende Welt.

John McShultz „Was machen die Vögel Silvester“ Screambyrd Records Press, Leipzig 2024, 12 Euro.

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