Wir leben in einer Welt, in der lauter Dinge gleichzeitig passieren. Wir bekommen es nur nicht mit. Wir sind ja nicht dabei. Wir erleben nur unseren eigenen Tag. Und manche Leute glauben tatsächlich, dass nicht mehr passiert. Und ignorieren, dass auch die Anderen ihre Abenteuer erlebt haben, während sie irgendwo anders waren. Und kluge Kinder wissen: Das Knäuel der Geschichten beginnt gleich morgens früh um halb Sieben. Da ist Toni nämlich schon fertig angezogen.

Und damit eine der ersten in ihrer kleinen Familie, zu der natürlich noch Mama und Papa gehören, Lina, die schon zur Schule geht, Elias, der auch schon putzmunter Mama vollquatscht. Und natürlich Oma, die tagsüber auf Elias aufpassen muss, weil Mama und Papa arbeiten.

Es ist eine Geschichte, die überall stattfinden könnte. Fast überall. So typisch, dass man schon mit dem Auge eines quicklebendigen Kindergartenkindes schauen muss, um zu merken, wie da lauter Geschichten nebeneinander und quer durcheinander laufen. Und jeder Einzelne in dieser von Lilli L’Arronge gezeichneten Geschichte lebt sein eigenes Leben.

Und das zeigt man natürlich am besten, indem man wie Lilli L’Aronge die Tageserlebnisse aller Mitglieder dieser kleinen, lebendigen Familie parallel nebeneinander zeigt. Schön mit Uhrzeit. Und mit dem unheimlich liebenswerten Witz, der nur da gedeiht, wo Menschen tatsächlich alle Aufs und Abs im Leben teilen, Fehler und kleine Unglücke verzeihen und ihre Mitmenschen auch dann noch gern haben, wenn die mal wieder lauter Unfug angestellt haben.

Die kleinen Abenteuer des Alltags

Da vergisst man dann glatt Oscar, den Kater, der abseits vom Familientrubel sein eigenes Katzenleben lebt, gern nascht und tagsüber auch ein paar Heldentaten vollbringen muss, z.B. um 9.30 Uhr, wenn Oma gerade den Elias windelt, was Elias nicht weiter stört, weil er seine lustigen schwebenden Freunde begrüßt. Mama hat eine glückliche Kundin in dem Blumenladen, in dem sie arbeitet, Papa tippt auf der Arbeit mal nicht auf dem Computer herum, sondern auf den Tasten des Kaffeeautomaten, Lina erfährt ein Geheimnis und Toni darf neben dem Geburtstagskind sitzen.

Es sind lauter scheinbar ganz alltägliche Szenen, die aber jedem Einzelnen das Herz im Brustkorb hüpfen lassen, Momente der Freude und der Vertrautheit erleben lassen. Und am Ende doch ein ganzes Leben ergeben, von dem viele Leute gar nicht mehr mitbekommen, dass es jeden Tag voller kleiner Erlebnisse steckt. Natürlich meistens nur dann, wenn wir uns auf Menschen einlassen.

So gesehen ist diese Bildergeschichte aus Tonis Familie auch eine Geschichte aus einer besonderen Welt. Hier kommen die heutigen Griesgrame, Nörgler, Besserwisser und Wüteriche nicht vor, die scheinbar jeden Tag die Politik in diesem Land bestimmen und für eine miese Stimmung sorgen. Typen, bei denen man sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass sie auch mal liebevolle Väter gewesen sein könnten, Teil einer Welt, in der sich alle bemühen, es ihren Lieben so schön wie möglich zu machen.

Und das schaffen Tonis Eltern eben nur, weil beide arbeiten gehen und Oma mithilft. Sodass das auch wieder eine ganz normale Geschichte ist aus einer ganz normalen jungen Familie in Deutschland, die nicht in einer Villa lebt und auch keine Dienstboten beschäftigt, sondern alles allein händeln muss. Was manchmal auch an die Grenzen geht. Auch das wissen ja junge Eltern. Etwa, wenn die Kinder halb Sieben am Abend noch einmal ordentlich aufdrehen und Mama tief durchatmen muss.

Worum es eigentlich geht

Aber das alles kann man lernen. Junge Leute wissen das. Sie tauschen sich aus, geben sich Tipps, wissen, wie man in einer von alten Männern konstruierten Gesellschaft trotzdem den Traum von einer quicklebendigen Familie leben kann, solange die finanziellen Rahmendaten passen.

Und Bild um Bild merkt man, was da für große und kleine Geschichten passieren, fast beiläufig. Geschichten, die man erst richtig vermissen lernt, wenn die Kleinen aus dem Haus sind. Wenn Toni vorm Einschlafen nicht mehr alle ihre Abenteuer des Tages erzählen möchte oder Lina noch ein paar gute Tipps von Papa braucht. Und Oscar noch mal loszieht.

Und wer dachte, Elias sei jetzt erst mal eingeschlafen für die nächsten paar Stunden, weiß nicht, dass Elias auch noch halb Zwölf Lust bekommen kann zu spielen. Wer opfert sich?
Eine alltägliche Frage. So schön, so schrecklich.

Aber so entsteht eine ganze Bilderbuchgeschichte, in der die kleinen und großen Leser miterleben, wie das an einem ganz gewöhnlich verrückten Tag in Tonis Familie so abgeht, drunter und drüber, manchmal auch geregelt und vernünftig. Und man schaut zu und ahnt, worum es beim Teilen wirklich geht.

Das ist nämlich, wenn lauter kleine und große Leute lauter verschiedene Sachen erleben und trotzdem zusammenhalten und froh sind, dass es die anderen alle gibt. Von denen man meist nicht weiß, was sie gerade so tun. Aber hier erfährt man es. Alles gleichzeitig. So wie eben immer alles Mögliche zur gleichen Zeit geschieht.

Und wer da am Ende des Tages nichts zu erzählen hat, der ist wirklich arm dran. Und sollte vielleicht doch wieder lernen, die Welt mit Tonis Augen zu sehen. Staunend über alles, was so beiläufig passiert.

Lilli L’Arronge „Tonis Tag“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2023, 14 Euro.

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