Mit dem Vorlesen von Gute-Nacht-Geschichten ist das so eine Sache. Manche Eltern setzen es ja strategisch ein, um die kleinen Rangen zum Einschlafen zu bringen, und suchen die Bücher auch entsprechend aus. Der Blick in die Kinderbuchabteilung jedes Bücherwarenhauses zeigt: Einige Verlage produzieren Berge solcher Schäfchen-Schweinchen-Bärchen-Geschichten. Als wenn die Lektoren niemals Kind gewesen wären. Kinder fühlen sich davon aber nur veräppelt und vergackeiert.

So ein bisschen wie Franz und Fia in dieser Geschichte des schwedischen Autors Magnus Ljunggren, die Per Gustavsson horrormäßig illustriert hat. Und Jana Hemer hat sich getraut, das alles ins Deutsche zu übersetzen. Das ist jetzt also nicht mehr rückgängig zu machen, gar in den Kopf von Magnus Ljunggren zurückzuschicken. Erzählt ist erzählt. Und es ist höchstwahrscheinlich, dass ihm das mit seinen Sprösslingen genau so erging. Man lernt ja auch als Vater nicht aus.

Und zu den Lektionen gehört nun einmal, dass die Geschichte mit den drei kleinen süßen Bärchen nur bei wirklich ganz, ganz kleinen Kindern funktioniert. Solchen Kindern, die noch nicht wissen, dass es gar keine süßen Bärchen gibt. Dass sie nur eine Erfindung von Leuten sind, die tatsächlich glauben, es wäre wunderbar, wenn alle Kinder wie süße Bärchen wären.

Kleine Köpfe voller Fantasie

Natürlich sind Kinder wie süße Bärchen. Aber nicht solche.

Und das weiß Papa auch. Er ist zwar fix und fertig von der Arbeit, aber auf die Vorlesestunden mit den Kleinen freut er sich trotzdem, auch wenn es der Papa in Ljunggrens Geschichte nicht so zeigt. Denn eigentlich liest er ja sonst nur vor und Franz und Fia schlafen einfach ein. Aber die Bärchen-Geschichte kennen sie in- und auswendig. Die ist nun einmal stinklangweilig. Da passiert nichts, was man nicht erwartet.

Obwohl man als kleiner Knirps weiß, dass das Aufregende im Leben nicht das Zähneputzen ist, sondern das, was – vielleicht – passiert. Ein gefährliches Großmaul etwa, das sich auf einmal ins Zimmer gräbt. Oder ein Gewimmel von Quallen unter der Bettdecke. Ist das Bett denn nicht ein Floß auf hoher See? Mit riesigem Wellengang! Wer rettet uns? – Das muss Papa doch mitkriegen!

„Gar nicht“, beharrt Papa auf seiner Lesart. „Denn hier stürmt es überhaupt nicht.“

Aber da kennt er die Fantasie kleiner Kinder nicht. Wenn kleine Kinderköpfe erst einmal gelernt haben, wie man Geschichten zum Leben erweckt, dann wollen sie auch richtige Geschichten. Geschichten, in denen es stürmt und kracht und mindestens ein Werwolfshai aus den Fluten springt – natürlich mit einem Bärenhunger. Was sind denn Geschichten, in denen es nicht richtig zur Sache geht und ordentlich Rabatz passiert? Das sind keine Geschichten. Auch wenn Papa noch so sehr darauf beharrt, dass die drei kleinen Bärchen jetzt im Bett sind und friedlich schlafen.

Zeit für andere Bücher

Da sagt nicht nur Fia: „Quatsch!“

Und wenn Fia das sagt, ist es höchste Zeit, die Bücher zu wechseln, die man den kleinen Menschlein mit ihrer überschäumenden Fantasie vorliest. Vielleicht ist das genau der Abend, an dem Papa das lernen muss. Und auch Abschied nehmen muss von dem Gedanken gut erzogener Eltern, dass ihre Kleinen nur lauter Babykram im Kopf haben und auch brav einschlafen, wenn man ihnen mit süßen Bärchen kommt.

Irgendwann funktioniert das nicht mehr. Schon gar nicht in einer Welt, wo es in jedem ordentlichen Kinderzimmer Saurier, Haie und Monster sonstiger Art gibt.

Man sieht sie in den Zeichnungen von Gustavsson. Die haben bestimmt Oma und Opa geschenkt. Die kennen da kein Pardon, gehen eher davon aus, dass man Kindern frühzeitig beibringen muss, dass es in der Welt keine süßen Bärchen gibt, aber Monster aller Art. Manche in echt. Manche in Menschengestalt.

Kinder sind keine Schäfchen

Und Kinder kriechen da schon lange nicht mehr schreiend unters Bett, wenn man ihnen Gruselgeschichten erzählt. Haben sie wahrscheinlich nie getan, auch wenn die Erwachsenen immer so getan haben, als wären Kinder mit Schäfchengeschichten glücklich zu stimmen. Es gibt erstaunlich viele Erwachsene, die sich ständig doof stellen. Und nicht wahrnehmen wollen, dass die Kleinen ihren Kopf schon voller grausamer und furchtbar aufregender Geschichten haben.

Und dass dieser Kopf auch noch fünf Minuten vor Schlafengehen auf Hochtouren läuft. Kein Wunder also, dass Papa die Geschichte entgleitet und Franz und Fia die Regie übernehmen.

Natürlich erzählen wir hier nicht, wie das ausgeht. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr für Papa. Obwohl es vielleicht keine mehr ist, wenn er zum hundertsten Mal versucht hat, die Bärchengeschichte an seine Kleinen zu bringen. Die Reaktionen sind eindeutig. Und vielleicht haben ja andere Vorlese-Papas genau an der Stelle ihren richtigen Spaß, weil sie das alles genau so auch erlebt haben. Denn eigentlich ist es eine Geschichte aus dem richtigen Leben, auch wenn sich sorgende Eltern nur ganz schwer vorstellen können, dass das alles schon in den süßen Köpfen ihrer Kleinen steckt.

Steckt es aber. Man muss nur hinhören, wenn die Fantasie mit den kleinen Monstern losprescht und kein Halten kennt.

Und das ist gut so, sagt das Leben. Denn wer keine Fantasie hat, erkennt die richtigen Monster nicht, wenn sie einem im Leben begegnen. Und auch nicht die Geschichten, wenn sie an die Tür klopfen. All das, was das Leben wirklich erst aufregend macht.

Kleine süße Bärchenkinder sind garantiert nicht dabei.

Magnus Ljunggren, Per Gustavsson „Eine SchlimmeNachtgeschichte“ Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2024, 14 Euro.

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