Die meisten Menschen wundern sich überhaupt nicht darüber, dass sie sich in ihrer Umgebung zurechtfinden. Die meisten denken nicht mal darüber nach, wie das eigentlich funktioniert. Aber die Forscher am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften finden diese Frage doch ziemlich wichtig. Denn: Wie funktionieren diese Landkarten im Kopf wirklich? Und was passiert, wenn sie nicht funktionieren?

Wir formen mentale Landkarten unserer Umgebung, um uns im Raum zu orientieren und uns zurechtzufinden. Was aber passiert, wenn das Koordinatensystem unseres Gehirns, das unsere mentalen Karten vermisst, verzerrt ist? Jacob Bellmund und Christian Doeller vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften zeigen in „Nature Human Behaviour“, dass es dann auch zu Verzerrungen in unserem räumlichen Gedächtnis kommt.

Um sich zu merken, wo wichtige Ereignisse geschehen oder wie wir von A nach B finden, formt unser Gehirn mentale „Landkarten“ unserer Umgebung. Ein wichtiger Baustein dieser mentalen Karten sind die sogenannten Gitterzellen. Diese sind an verschiedenen Orten einer Umgebung aktiv, sodass ein charakteristisches Aktivitätsmuster im Gehirn entsteht. Dieses Muster besteht aus gleichseitigen Dreiecken, die sich zu einer symmetrischen Gitterstruktur zusammenfügen.

Für die Entdeckung der Gitterzellen im Gehirn von Ratten wurde 2014 der Nobelpreis vergeben. Wissenschaftler vermuten, dass diese Gitterstruktur auch im menschlichen Gehirn als eine Art Koordinatensystem für unsere mentalen Landkarten funktioniert – mithilfe der Gittermuster können wir uns merken, wo ein bestimmter Ort liegt und wie weit er von einem anderen entfernt ist. Dies sollte gut funktionieren, wenn die Gittermuster symmetrisch und regelmäßig sind.

Störungen im Gittermuster

Was passiert jedoch, wenn die Gittermuster gestört sind? Wird unsere mentale Karte dann ungenau? Dieser Idee ging ein Team von Forschern des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, des University College London und des norwegischen Kavli-Instituts für Systemische Neurowissenschaften nach.

Frühere Studien an Ratten in einem Labyrinth hatten gezeigt, dass diese Aktivitätsmuster unter bestimmten Umständen ihre Symmetrie verloren und unregelmäßiger „feuerten“. Navigierten die Tiere durch eine quadratische Box, ließ sich ein perfektes Gittermuster in ihrem Hirn nachweisen. Bewegten sie sich durch ein trapezförmiges Gehäuse, war das Gittermuster jedoch weit weniger regelmäßig – das Koordinatensystem der Gitterzellen bei Ratten wirkte unter diesen Umständen regelrecht verzerrt.

Und beim Menschen? Könnte das Folgen für die Genauigkeit unserer mentalen Karten haben?

„Es sollte zu Verzerrungen im Gedächtnis führen, wenn unser Gehirn wirklich dieses Koordinatensystem nutzt“, dachten sich Christian Doeller und Kollegen.

„Wir haben deshalb Virtual Reality-Versuche gemacht, in denen die Teilnehmer Positionen im Raum lernen sollten. Einmal in einer quadratischen Umgebung, wo das Koordinatensystem gut funktionieren sollte und einmal in einer trapezförmigen Umgebung, wo das System der Gitterzellen verzerrt ist“, erklärt Jacob Bellmund.

„Moonwalk“ mit Virtual-Reality-Brille

Die Teilnehmer trugen eine Virtual-Reality-Brille und navigierten mithilfe einer 360°-Bewegungs-Plattform durch die virtuellen Umgebungen. In jeder davon befanden sich sechs Objekte – sie lernten, welches Objekt an welche Position in der Umgebung gehört. Die Plattform ermöglichte ein realistisches Lauf-Gefühl, indem die Füße in einer Art „Moonwalk“ darüberglitten, wobei die Teilnehmer nur in der virtuellen Welt tatsächlich vom Fleck kamen.

Visualisierung des „Moonwalk“.

„Wir haben dann verglichen, wie genau die Studienteilnehmer die Positionen lernen konnten. Wie erwartet, fiel ihnen dies in der Trapez-Umgebung schwerer als in der quadratischen – in der Trapez-Umgebung waren sie zudem in der schmalen Hälfte besonders schlecht. Dort ist das Gitterzell-Koordinatensystem besonders verzerrt“, so Bellmund.

Je stärker also die Abweichungen vom regelmäßigen Gitterzellmuster, desto schlechter das räumliche Gedächtnis. Damit legen die MPI-Wissenschaftler letztlich nahe, dass unser Gehirn tatsächlich dieses System nutzt.

Und nicht nur das: Die Verzerrungen im Gedächtnis blieben sogar bestehen, wenn die Teilnehmer nicht mehr im Trapez waren. So sollten sie schätzen, wie groß die Distanz zwischen Paaren von Objekten ist. Bellmund und sein Team hatten die Objekte so arrangiert, dass die tatsächliche Distanz zwischen den Paaren immer identisch war. Im Gedächtnis der Teilnehmer gab es aber Verzerrungen, sodass die gleichen Distanzen im Trapez als kürzer erinnert wurden als im Quadrat.

Innerhalb des Trapezes war es so, dass die Distanzen in der schmalen Hälfte als länger erinnert wurden als in der breiten Hälfte. Gedächtnisinhalte, die mit verzerrtem Koordinatensystem gelernt wurden, sind also auch beim späteren Abruf aus dem Gedächtnis verzerrt. Faszinierend für die Neurowissenschaftler: „Genau diese Verzerrungen unserer mentalen Karten können wir nun mit einem Modell-Koordinatensystem vorhersagen“, so Jacob Bellmund.

Vorherige Arbeiten der MPI-Wissenschaftler haben nahegelegt, dass das Gehirn mentale Karten nicht nur formt, um sich zurechtzufinden, sondern dass das Navigationssystem unseres Gehirns auch andere kognitive Prozesse unterstützt. Auch hier nehmen die Wissenschaftler eine zentrale Rolle des Koordinatensystems der Gitterzellen an. Ähnlich dem räumlichen Gedächtnis könnte es unter bestimmten Umständen genauso zu systematischen Verzerrungen kommen – eine spannende Möglichkeit für die Forschung, unseren Gedankengängen weiter auf die Spur zu kommen.

Originalpublikation: Jacob L. S. Bellmund, William de Cothi, Tom A. Ruiter, Matthias Nau, Caswell Barry, Christian F. Doeller (2019) „Deforming the metric of cognitive maps distorts memory“ in „Nature Human Behaviour“.

Experiment am Max-Planck-Institut: Das Gehirn kartiert unsere Erinnerungen als eine Landkarte aus Zeit

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