Gern wird in der Diskussion um den Pestizideinsatz in der Landwirtschaft so getan, als würde es genügen, einfach nur die Menge der verspritzten Gifte zu reduzieren. Aber das könnte ein arger Trugschluss sein, stellen jetzt Forscher des Umweltforschungszentrums (UFZ) in Leipzig fest. Denn viele Menschen, Tiere und Pflanzen reagieren schon auf kleinste Mengen.

Schadstoffe wie Pestizide können bereits in zehntausendfach geringeren Konzentrationen Wirkungen auf sensitive Individuen haben als bislang angenommen. Das konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in ihrer aktuellen im Fachmagazin „Scientific Reports“ veröffentlichten Studie zeigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Maß an Stress. Auf den ersten Blick überraschend: Nicht nur zu viel, sondern auch zu wenig Stress kann zu höherer Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffen führen.

Die Dosis macht das Gift

Ob und inwieweit ein Schadstoff einem Organismus schadet oder ihn tötet, hängt vor allem von seiner Konzentration und der Empfindlichkeit eines Individuums ab: Die Dosis macht das Gift.

„Doch das ist nicht alles“, sagt UFZ-Ökotoxikologe Prof. Dr. Matthias Liess. „Es kommt auch ganz entscheidend darauf an, wie hoch der Stress ist, dem der Organismus ausgesetzt ist.“

Schadstoffkonzentration, individuelle Sensitivität und Umweltstress spielen also in einer Art Wirkungsdreiklang zusammen. Welche Rolle den einzelnen Komponenten dabei zukommt, dem sind die Forscherinnen und Forscher in ihrer aktuellen Studie nachgegangen. Sie wollten herausfinden, wie es künftig besser gelingen kann, empfindliche Individuen und Effekte bei sehr niedrigen Konzentrationen in der Risikobewertung zu berücksichtigen.

„Bisherige Modellrechnungen konnten die Effekte niedriger Schadstoffkonzentrationen auf empfindliche Individuen und Arten kaum vorhersagen“, erklärt Liess. „Doch das ist in der Human- wie auch in der Ökotoxikologie durchaus wichtig.“

Denn sensitive Personen – etwa Kinder, kranke oder ältere Menschen – oder empfindlichere Arten eines Ökosystems nehmen offensichtlich schon bei sehr viel geringeren Konzentrationen Schaden als bisher angenommen.

„Angestoßen wurde unsere Untersuchung durch eine Beobachtung im Labor: Bei sehr niedrigen Pestizid-Konzentrationen – weit unterhalb von Konzentrationen, wie sie in bisherigen Studien zu starken Effekten führten – zeigten sich Wirkungen auf sensitive Organismen“, sagt der Ökotoxikologe.

Wenn Schadstoffstress den Umweltstress verstärkt

Diese wurden bisher kaum beobachtet, da derart niedrige Konzentrationen nur äußerst selten getestet werden. Bislang ging man davon aus, dass Schadstoffe erst nach Überschreiten eines Schwellenwertes Effekte in hohen Konzentrationen zeigen – so die Theorie. Doch bei extrem geringen Konzentrationen stimmt dies offensichtlich nicht.

Liess: „Wir fanden diese Effekte bei fast allen vorliegenden Arbeiten, in denen sehr niedrige Konzentrationen von Schadstoffen untersucht wurden.“ Und ebenso in ihren eigenen Untersuchungen, in denen sie den Planktonkrebs Daphnia magna geringsten Konzentrationen eines Pestizids aussetzten – in diesem Fall Esfenvalerat, das als Insektizid mit Kontakt- und Fraßwirkung in Pflanzenschutzmitteln beim Obst-, Gemüse- und Ackerbau verwendet wird und in der EU zugelassen ist. Was steckt hinter den Effekten in diesen geringen Konzentrationsbereichen? Die Hypothese der UFZ-Wissenschaftler lautet: Schadstoffstress trifft auf inneren Stress. Doch was bedeutet das?

Organismen werden unter Einwirkung von Umweltstress, wie z. B. Räuberdruck, Parasiten und Hitzewellen empfindlicher gegenüber Schadstoffen und sterben schon bei niedrigen Schadstoffkonzentrationen.

Auch fehlender Stress macht Stress

„Diesen Zusammenhang haben wir bereits in früheren Untersuchungen berechnen können“, sagt Liess. „Nun konnten wir zeigen, dass Individuen inneren Stress entwickeln, wenn sie zu wenig periodisch auftretendem Stress aus der Umwelt ausgesetzt sind.“

Offensichtlich sind Organismen an eine gewisse Menge Umweltstress angepasst. Für Planktonkrebse sind optimale Laborbedingungen – ausreichend Sauerstoff, optimale Wassertemperatur – daher wohl nicht wirklich optimal.

„Und da sich externer und interner Stress addieren, erhöht sich damit die Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffen – und das drastisch“, erklärt Liess. Die Folge: Sensitive Individuen reagieren bereits auf äußerst geringe Schadstoffkonzentrationen. Diese können bis um den Faktor 10.000 unterhalb der Konzentrationen liegen, die bisher als schädlich angesehen wurden. „Somit erhöht zu viel – aber auch zu wenig – Stress die Empfindlichkeit gegenüber Schadstoffen“, sagt der UFZ-Forscher.

Um Effekte in niedrigen Konzentrationsbereichen sichtbar machen zu können, entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Modell, mit dem der innere Stress und die damit zusammenhängenden Effekte auf Schadstoffwirkungen berechnet werden können. Liess: „Wir hoffen, dass wir mit unserer Studie zu einer realistischeren und detaillierteren Risikobewertung umwelt- und humantoxikologischer Fragestellungen beitragen können – insbesondere für sensitive Individuen.“

Risikobewertung von Pestiziden muss sich endlich an den konkreten Schutzgütern vor Ort ausrichten

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