Es sitzt tief in den Köpfen der Menschen: Keinen Ort auf Erden lassen sie unberührt. Alles müssen sie in Besitz nehmen, verwerten, bebauen und der großen kapitalistischen Maschine zum Fraß vorwerfen. Genau diese Denkweise aber führt dazu, dass es für die Artenvielfalt auf der Erde keine Rückzugsräume mehr gibt, dass Monokulturen den Planeten beherrschen und die Erderwärmung immer mehr befeuert wird. Forscher plädieren dafür, endlich wieder große, unberührte Naturlandschaften zuzulassen. Und sie dann auch in Ruhe zu lassen, damit sich die Natur wieder erholen kann.

Denn die großflächige Wiederherstellung von Naturlandschaften kann sowohl die aktuelle Klima- als auch die Biodiversitätskrise bekämpfen. Ein am Montag, 20. Januar, von sechs Institutionen herausgegebenes Strategiepapier, an dem auch das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) beteiligt sind, fordert von der Europäischen Kommission eine stärkere Priorisierung sogenannter Rewilding-Maßnahmen in der neuen EU-Biodiversitätsstrategie nach 2020. Rewilding bezeichnet die Wiederherstellung der Natur mit geringen menschlichen Eingriffen.

Der Natur zu helfen, hilft auch uns

Wir stehen aktuell zwei Umweltproblemen gegenüber, formulieren sie das Anliegen: Dem Rückgang der biologischen Vielfalt (Biodiversität) und dem Klimawandel. Auch wenn sie häufig getrennt betrachtet werden – die beiden zugrunde liegenden Ursachen haben oft mit einer nicht nachhaltigen Entwicklung zu tun. Zur Wiederherstellung der Natur können sogenannte Rewilding-Maßnahmen und die Stärkung naturbasierter Lösungen beitragen – mit ihnen können beide Umweltprobleme gleichzeitig bekämpft werden.

Für diese Doppelstrategie plädieren Experten des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), des Europäischen Umweltbüros (EBB), World Wide Fund for Nature (WWF), BirdLife Europe & Central Asia und Rewilding Europe.

In einem heute veröffentlichten Strategiepapier rufen sie die Europäische Kommission auf, Rewilding mit hoher Priorität in die EU-Biodiversitätsstrategie nach 2020 aufzunehmen. Mit ehrgeizigen Zielen für die Wiederherstellung der Natur und die entsprechende Gesetzgebung könnte die Strategie zu einer großflächigen Erholung der Natur in Europa führen. Damit würde sie helfen, die Klima- und die Biodiversitätskrise zu bekämpfen und die entsprechenden Ziele der EU zu erreichen.

„Eine großflächige Wiederherstellung der Natur in Europa würde nicht nur den Rückgang der Biodiversität stoppen und umkehren. Die Natur würde zusätzlich der Atmosphäre Kohlenstoff entziehen und damit den Klimawandel bremsen“, sagt Prof. Henrique Pereira, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz bei iDiv und MLU. „Die neue Biodiversitätsstrategie nach 2020 sollte deshalb rechtlich bindende Ziele für die Wiederherstellung zerstörter Lebensräume mit Rewilding-Maßnahmen beinhalten.“

Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme

Die Wiederherstellung von Wäldern könnte bis zu zwei Drittel der angesammelten CO2-Emissionen der Atmosphäre binden und damit maßgeblich beitragen, die globale Erwärmung auf weniger als 1,5 °C zu begrenzen. Solche Maßnahmen können jedoch nur erfolgreich sein, wenn sie auf die Wiederherstellung natürlicher, biologisch komplexer und selbsterhaltender Wälder abzielen. Monokulturen schädigen hingegen häufig die vorhandene Biodiversität und machen den Wald anfälliger für Brände und Krankheiten.

Auch die Wiederherstellung von Torfmooren kann eine kostengünstige Möglichkeit sein, den Klimawandel abzuschwächen. Funktionsfähige Torfmoore speichern Kohlenstoff auf der Atmosphäre. Doch ein Großteil der europäischen Moore ist geschädigt: Durch Trockenlegung, Abbau, Forstwirtschaft oder Abbrennen. Das Austrocknen der Moore setzt Kohlenstoff frei. Torfmoore wiederherzustellen bedeutet deshalb auch, ihre Funktion als Kohlenstoffspeicher wiederherzustellen.

Kostengünstige Veränderungen

Das Strategiepapier fordert, in der EU-Biodiversitätsstrategie nach 2020 verbindliche Ziele für die Wiederherstellung der Natur festzulegen. Dies würde natürliche Waldgebiete, Torfmoore, Aulandschaften, Feuchtgebiete und artenreiche Wiesen sowie Küsten- und Meeresgebiete einschließen. Wiederaufforstungen sollten mit heimischen Baumarten erfolgen während sich andernorts Wälder ohne Neupflanzungen erholen können.

Die Kosten großflächiger Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ökosystemen sind oftmals sehr hoch – ein Grund, weshalb die EU die gesetzten Ziele aktuell nicht erreicht. Das Strategiepapier zeigt, dass selbsterhaltende und funktionsfähige Ökosysteme nur wenig menschliche Unterstützung benötigen und so die Kosten für die Schaffung ökologischer Netzwerke reduzieren können.

Die Wiederherstellung der Natur kann – zeitnah und kosteneffektiv – viele Vorteile haben: die Reduktion von Kohlenstoff in der Atmosphäre, Schutz vor Überflutungen und Küstenerosion, stabilere Ernten, geringeres Waldbrandrisiko, sauberes Trinkwasser, menschliches Wohlbefinden und Gesundheit sowie wirtschaftliches Wachstum. Mit Rewilding-Maßnahmen kann die EU-Biodiversitätsstrategie nach 2020 dazu beitragen, dass all dies erreicht wird.

EU-Biodiversitätsstrategie

Die EU-Biodiversitätsstrategie wurde 2011 von der Europäischen Kommission verabschiedet, um den Rückgang der Biodiversität und naturbasierter Lösungen in der EU zu stoppen. Während die Strategie bis 2020 auf eine Wiederherstellung von mindestens 15 % der geschädigten Ökosysteme abzielte, zeigte ein Zwischenbericht im Jahr 2015, dass zur Erreichung dieses Ziels kaum Fortschritte gemacht wurden.

Originalpublikation: Henrique M. Pereira, Néstor Fernandez, Andrea Perino, Josiane Segar, Frans Schepers, Rob Stoneman (2020). Ecological restoration in the EU post-2020 biodiversity strategy: The opportunities of rewilding European landscapes for nature and climate.

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