Unser Gehirn ist kein Computer. Und das, was uns derzeit immer wieder aufgeschwatzt wird als Künstliche Intelligenz, hat mit dem, wie Menschen denken, nichts zu tun. Wir denken. Wer denken auch, dass wir denken. Aber wie stark wir tatsächlich immerfort von Emotionen und neuen Eindrücken beeinflusst sind, das ahnen die meisten nicht einmal. Dabei entscheiden starke Emotionen oft, was wir überhaupt bewusst wahrnehmen – und wie wir darüber denken. Ein Leipziger Experiment macht das deutlicher.

Illustriert hat es das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) mit dem Bild eines elektronischen Gerätes mit Input- und Output-Kanal. Gerade aber diese technische Installation ist das, was das Experiment widerlegt. Unser Gehirn ist zwar ständig dabei, Informationen aus der Außenwelt aufzunehmen, zu verarbeiten und zu wichten. Aber es kommt jedes Mal etwas anderes dabei heraus. Denn – wie gesagt – unser Gehirn ist kein Computer.

Es wacht parallel über unsere Körperfunktionen, nimmt lauter Informationen zum Wohlbefinden oder zu Schmerzen auf, filtert aber auch gleichzeitig sämtliche Erstinformationen – was emotional nicht berührt, unwichtig erscheint oder einfach nicht bedrohlich, wird schon im zweiten Schritt herausgefiltert.

Was übrigens ein elementarer Vorgang ist, der mitbestimmt, was wir aus der Informationsfülle rings um uns überhaupt bewusst wahrnehmen. Mit Betonung auf bewusst. Denn was uns nicht einmal bewusst wird, weil es mit unserer augenblicklichen Grundstimmung nichts zu tun hat, überlesen und übersehen wir geradezu. (Was für die Polizei übrigens heißt: Wir sind ganz schlechte Zeugen.)

Aber schauen wir, was die Gedankenforscher dazu herausbekommen haben.

Wobei sie sich vom Denkmodell Computer – wie man sieht – nicht ganz lösen können: „Das Gehirn verarbeitet die gleichen Informationen niemals auf die gleiche Art und Weise“, schreiben die Autoren der zugehörigen Mitteilung aus dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS). Dort haben Wissenschaftler herausgefunden, warum das der Fall ist und wie diese Verarbeitung funktioniert. Eine entscheidende Rolle spielt dabei ein kritischer Zustand der Nervenzellen.

Das Wort „verarbeiten“ ist eher unpassend. Es suggeriert einen technischen Vorgang, der so nicht existiert.

Mit der folgenden Erklärung kommen die Autoren der Sache schon näher, auch wenn wieder technische Begriffe wie verarbeiten und Netzwerke drin vorkommen: „Raschelnde Blätter, leichter Regen am Fenster, eine leise tickende Uhr – dumpfe Geräusche, knapp oberhalb der Hörschwelle. In einem Moment nehmen wir sie wahr, im nächsten nicht mehr, auch wenn wir oder die Töne sich scheinbar nicht verändert haben.

Viele Studien haben gezeigt, dass wir einen eintreffenden Reiz, etwa ein Ton, ein Bild oder eine Berührung, jeweils anders verarbeiten, selbst wenn der Reiz genau derselbe ist. Der Grund: Wie sehr ein Stimulus die zuständigen Hirnregionen aktiviert, hängt vom momentanen Zustand der Netzwerke ab, zu denen diese Regionen gehören. Unklar ist jedoch, was diesen ständig schwankenden Zustand der Netzwerke beeinflusst – und ob dieser zufällig entsteht oder einem Rhythmus folgt.“

Dabei geht es die ganze Zeit um Reize. Ohne die permanent einströmenden Reize und und die Variationen, mit denen unser Gehirn diese Reize wahrnimmt und registriert, würden wir nicht denken, hätten wir keinerlei emotionale Beziehung zu unserer Umwelt, keine besondere Aufmerksamkeit für irgendetwas.

Emotionen machen uns zu denkenden und mit unserer Umwelt verbundenen Lebewesen.

Wann ist unser Gehirn für Reize offen?

Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig konnten nun weitere Hinweise zur Beantwortung der gestellten Fragen liefern. Sie haben herausgefunden, dass das Gehirn umso stärker auf einen Reiz reagiert, je stärker die Netzwerke in dem Moment angeregt werden können, in dem die Reiz-Information in die Großhirnrinde, den Cortex, eintritt.

Je nach Zustand sind die Nervenzellen in diesem Bereich, dem sogenannten primären somatosensorischen Cortex leichter oder schwerer erregbar. Die Erregbarkeit entscheidet wiederum darüber, wie der Reiz weiter verarbeitet wird. Sie beeinflusst damit bereits am Eingang zur Großhirnrinde darüber, wie das Gehirn mit einem Reiz umgeht und nicht erst, wie lange angenommen, auf höheren, nachgeschalteten Ebenen.

„Es gibt immer eine gewisse Aktivität zwischen den Neuronen eines Netzwerks, auch wenn scheinbar keine äußeren Einflüsse auf uns wirken. Das System ist also nie vollkommen inaktiv“, erklärt Tilman Stephani, Doktorand am MPI CBS und Erstautor der Studie, die jetzt im „Journal of Neuroscience“ veröffentlicht wurde. Vielmehr erhalten sie ständig Informationen, etwa aus dem Körperinneren. Sie wachen über unseren Herzschlag, unsere Verdauung oder unsere Atmung, über unsere Position im Raum und intern erzeugte Gedanken. Die Neuronen sind selbst dann aktiv, wenn sie von jeglichem Input isoliert sind.

„Diese internen Prozesse beeinflussen ständig die Erregbarkeit verschiedener Hirnnetzwerke“, sagt Stephani. „Deren Dynamik bestimmt die Erregbarkeit des Systems und damit auch die Reaktion auf einen Reiz.“ Das Gehirn scheint demnach nicht wie ein Computer zu funktionieren, bei dem die gleichen eingehenden Informationen immer die gleiche Reaktion bedeuten.

Permanent im Modus Aufmerksamkeit: unser Gehirn

Dabei zeigte sich: Wie stark der Cortex erregbar ist, ist nicht dem Zufall überlassen. Der Wechsel zwischen geringerer und stärkerer Reizbarkeit folgt vielmehr einem bestimmten zeitlichen Muster. Der aktuelle Zustand hängt vom vorherigen ab und beeinflusst wiederum den nachfolgenden. Wissenschaftler sprechen hier von einer langfristigen zeitlichen Abhängigkeit oder einer langanhaltenden Autokorrelation.

„Dass der Cortex so in seiner Erregbarkeit variiert, deutet darauf hin, dass sich seine Netzwerke nahe an einem sogenannten ‚kritischen‘ Zustand befinden“, sagt Stephani. „Sie schwanken stets in einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung.“

Frühere Studien hatten gezeigt, dass dieser kritische Zustand entscheidend für die Gehirnfunktion sein könnte. Durch ihn können möglichst viele Informationen übertragen und verarbeitet werden. Stephani und Kollegen liefern nun Hinweise darauf, dass dieses Gleichgewicht auch darüber entscheiden könnte, wie das Gehirn Sinneseinflüsse verarbeitet.

Es dient vermutlich als Anpassungsmechanismus, um mit der Vielfalt von Informationen zurechtzukommen, die ständig aus der Umwelt eintreffen. Ein einziger Reiz sollte weder das gesamte System auf einmal erregen noch zu schnell wieder verschwinden.

Unklar ist jedoch bislang, was das für die subjektive Wahrnehmung bedeutet. Nimmt eine Person einen Reiz intensiver wahr, wenn der in einem Moment eintrifft, in dem das Netzwerk stärker erregbar ist und er eine entsprechend stärkere Reaktion des Gehirns hervorruft?

Eine spannende Frage. Die Antwort darauf soll nun eine zweite Studie liefern.

„Hier können aber auch andere Prozesse eine Rolle spielen“, bemerkt der Neurowissenschaftler. „Zum Beispiel die Aufmerksamkeit.“ Lenkt man die auf etwas anderes, kann der eintreffende, weniger beachtete Einfluss zwar trotzdem eine erste, starke Hirnreaktion hervorrufen. Höhere nachgelagerte Prozesse im Großhirn können dann jedoch verhindern, dass der bewusst wahrgenommen wird.

Untersucht haben die Wissenschaftler diese Zusammenhänge anhand tausender kleiner aufeinanderfolgender elektrischer Ströme. Die legten sie an den Unterarm der Teilnehmer an, um den Hauptnerv im Arm anzuregen. Die Stimulationen führten wiederum 20 Millisekunden später in einem bestimmten Bereich des Gehirns, dem somatosensorischen Cortex, zu einer ersten Reaktion. Anhand der EEG-Muster konnten die Forscher sehen, wie leicht jeder einzelne Stimulus das Gehirn erregte.

Originalpublikation: Stephani, T., Waterstraat, G., Haufe, S., Curio, G., Villringer, A., Nikulin, V. V. (2020) „Temporal signatures of criticalityin human cortical excitability as probed by early somatosensory responses“, Journal of Neuroscience

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