So richtig ist es in den Köpfen der entscheidenden Politiker/-innen noch nicht angekommen, wie dramatisch die Lage ist, dass das Zeitfenster, in dem noch gehandelt werden könnte, auf ganz wenige Jahre zusammengeschmolzen ist. Und das nicht nur bei der Klimaerhitzung, sondern auch beim Artenverlust. Und der betrifft inzwischen auch viele Arten, ohne die einige Ökosysteme nicht mehr funktionieren werden. Dass sich drei Akademien jetzt auch dazu mit einem Appell an die Öffentlichkeit wenden, ist schon ein starkes Signal.

Es zeigt aber auch, wie wenig die aktuelle Politik – egal, ob im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen – von dem wahrnimmt, was die Wissenschaft längst als Forschungsbestand vorgelegt hat. In Leipzig legen etwa das iDiV und das UFZ regelmäßig neue Studien zur schwindenden Biodiversität und zum Verschwinden der Arten vor.

Aber es ist, als wäre da eine fette Mauer aus Beton zwischen Forschung und Politik. Da werden Kommissionen gegründet, in denen Kompromisse zusammengekungelt werden, die nicht mal ansatzweise auf die wissenschaftlichen Befunde eingehen. Da werden Gesetze von Leuten gemacht, deren Eigeninteresse jedem aber auch jedem Gemeinwohl entgegenläuft – und erst in der Corona-Pandemie sahen sich die Entscheider endlich geneigt, die Expertise zumindest der Virologen in Anspruch zu nehmen.

Während die Forschungsergebnisse aus der Biodiversitätsforschung einfach ignoriert werden – von der Agrarministerin genauso wie vom Wirtschaftsminister und dem von Auto-PS geradezu trunkenen Verkehrsminister. Was der Hauptgrund für das Ignorieren ist: Wo wissenschaftliche Fakten dem Gewinnstreben einiger Konzerne entgegenstehen, werden sie ignoriert.

Und so werden die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in ihrer neuen Wortmeldung zum Thema Landwirtschaft auch entsprechend deutlich.

Denn die biologische Vielfalt in der Agrarlandschaft ist in Deutschland in den letzten Jahren, selbst in Naturschutzgebieten, stark zurückgegangen. In ihrer am Montag, 12. Oktober, veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme „Biodiversität und Management von Agrarlandschaften“ geben die deutschen Wissenschaftsakademien Empfehlungen in acht Handlungsfeldern. Sie benennen den Schutz der Artenvielfalt als eine dringende und komplexe Herausforderung.

Die ganze Gesellschaft muss sich wandeln

Es bedürfe eines gesamtgesellschaftlichen Wandels hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Wichtig sei es, dabei die ökonomischen, politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft zu berücksichtigen. Daher empfehlen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine systemische Herangehensweise mit vielfältigen, parallelen Lösungsansätzen.

Der wichtigste Ansatzpunkt seien die Subventionszahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP). Diese sollten zukünftig stärker an tatsächlich erbrachte und messbare Ökosystemleistungen geknüpft werden.

Der beobachtete Rückgang der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft in Deutschland wird zukünftig die Funktionsfähigkeit der Agrarökosysteme einschränken und spürbare Folgen für Mensch und Umwelt haben, formulieren die Forscher ganz vorsichtig, was in der Praxis ziemlich beängstigende Züge annehmen wird, denn darauf ist die industrialisierte Landwirtschaft nicht vorbereitet.

Die Expertinnen und Experten weisen darauf hin, dass sich der Wert der Biodiversität nicht nach rein ökonomischen Kriterien bemessen lässt. Verursacht sehen sie den Rückgang an Tier‐ und Pflanzenarten durch ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Diese seien auf intensivierte Landnutzung und biologisch-technische Innovationen zur Produktionssteigerung zurückzuführen.

Heißt: ausgeräumte Landwirtschaften mit riesigen Feldern in Monokultur, massiver Einsatz von künstlicher Düngung und von Pestiziden, verarmte Böden und massiver Bodenverlust.

Die Autorinnen und Autoren der Stellungnahme sehen akuten Handlungsbedarf, um die Biodiversität in der deutschen Agrarlandschaft zu schützen und zu fördern. Künftige Rahmenbedingungen sollten Landwirtinnen und Landwirte aktiv dabei unterstützen, biodiversitätsfreundlich zu wirtschaften. Durch eine Kombination der vorgeschlagenen Maßnahmen ließe sich der Rückgang der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft nicht nur aufhalten, sondern auch wieder umkehren, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Aber dazu brauchen die Landwirt/-innen echte und starke Unterstützung durch die Politik und darf die alte industrielle Landwirtschaft nicht mehr den Löwenanteil der Subventionen bekommen.

Dass Städte wie Leipzig ebenfalls eine riesige Verantwortung haben, steht auch im Papier. Indirekt natürlich, denn nicht nur Leipzig verschläft seit über zehn Jahren alle Chancen, die Pächter städtischer Flächen zur ökologischen Landwirtschaft zu verpflichten.

Die Stellungnahme zeigt Handlungsoptionen in acht Bereichen auf:

1. Weiterentwicklung der Agrar- und Umweltpolitik auf europäischer und nationaler Ebene: Die Akademien empfehlen unter anderem eine engere Kopplung von Agrar- und Umweltpolitik. GAP-Förderinstrumente sollten sich auf zielorientierte Maßnahmen fokussieren und Subventionszahlungen an die Landwirtschaft an erbrachte und messbare Ökosystemleistungen geknüpft werden.

2. Anpassung des Agrar- und Umweltrechts: Die Schaffung eines EU-Landwirtschaftsgesetzes würde die Umweltschutzvorschriften für die Betriebe rechtlich verankern und gleichzeitig Wettbewerbsverzerrung innerhalb der EU vermeiden. Bestehende Rechtsvorschriften sollten konsequenter vollzogen werden.

3. Entwicklung von planungsbasierten, regional differenzierten und gemeinschaftlichen Ansätzen: Ziel solcher Anpassungen in der Landschaftsplanung sei eine geänderte Landnutzung in enger Zusammenarbeit aller beteiligten Akteurinnen und Akteure. Dabei sollte ein Teil der zur Verfügung stehenden Flächen zukünftig entweder aus der landwirtschaftlichen Produktion genommen oder deutlich weniger intensiv genutzt werden.

4. Verantwortung der Kommunen: Als sichtbare Vorreiter und Multiplikatoren sollten sie sich stärker dafür einsetzen, die biologische Vielfalt auf ihren Flächen zu erhalten, zu pflegen und zu erhöhen.

5. Einfluss durch Handel und Märkte: Produkte aus regionaler biodiversitätsfreundlicher Produktion sollten im Handel entsprechend gekennzeichnet werden. Zudem müsse die Infrastruktur verbessert werden, um regionale landwirtschaftliche Produkte lokal weiterverarbeiten zu können. Darüber hinaus gelte es, Lebensmittelverluste zu verringern.

6. Unterstützung von landwirtschaftlichen Betrieben: Für landwirtschaftliche Betriebe muss biodiversitätsfreundliche Produktion wirtschaftlich attraktiv sein. Sie sollten bei der Umsetzung entsprechender Bewirtschaftungsmethoden sowie bei Investitionen in innerbetrieblichen Naturschutz unterstützt werden. Neben dem ökologischen Landbau sollten innovative Konzepte für den integrierten Anbau ausgebaut und kontinuierlich weiterentwickelt werden.

7. Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wertschätzung: Das Bewusstsein für die Bedeutung biologischer Vielfalt in der Agrarlandschaft sollte grundlegend gestärkt werden und müsse sich auch in einem geänderten Konsumverhalten zeigen. Besonders wichtig sei es, die Bereitschaft zum Kauf biodiversitätsfreundlicher Produkte zu erhöhen und den Fleischkonsum zu reduzieren.

8. Ausbau von Monitoring und Forschung: Es brauche ein langfristiges, bundesweites und standardisiertes Monitoring sowie Forschung, um die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt überprüfen sowie ein breites und repräsentatives Spektrum an Arten und Lebensräumen dokumentieren zu können.

Begleitend zur Stellungnahme stellt die Leopoldina ein digitales Dossier zur Verfügung, das das Thema anschaulich und interaktiv aufbereitet. Hier bekommen die Betrachter eindrucksvoll gezeigt, wie die Artenvielfalt in der heutigen Landwirtschaft erst vernichtet wurde und was das für viele Tierarten, die in der Landschaft unersetzbar sind, bedeutet.

Die Publikation und alle weiteren Informationen auf der Website der Leopoldina.

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