Auch durch die COVID-19-Pandemie ist der Tod wieder präsenter in der Gesellschaft. Wie gingen die Menschen eigentlich früher mit dem Thema um, wo es noch viel allgegenwärtiger war? Wir haben mit einer Kunsthistorikerin gesprochen, die sich mit derlei Fragen auskennt.

Schon während ihrer Kindheit in der Oberlausitz, so erzählt Anja Kretschmer, ging sie gern auf den Friedhof, empfand den Ort als wohltuend, friedlich und geheimnisvoll. Folgerichtig führte der Weg der promovierten Kunsthistorikerin in eine professionelle Beschäftigung mit dem Thema.

Seit mehreren Jahren arbeitet Kretschmer freiberuflich, forscht und publiziert über historische Grabanlagen, Totenkultur, Brauchtum und Volksglauben, außerdem bietet sie Führungen an. Wie dachten die Menschen früher über den Tod, welche Bräuche und Phantasiegestalten brachten sie hervor? Und können wir daraus etwas lernen?

Frau Dr. Kretschmer, der Tod hat früher viele Deutungen hervorgebracht, die wir heute dem Aberglauben zurechnen. Wie kam das?

Volks- bzw. Aberglaube meint die Vorstellungen der Menschen damals, was es quasi zwischen Himmel und Erde gibt. Sie haben sich mit ihrem Vorstellungsvermögen zu erklären versucht, wie es zum Beispiel sein kann, dass jemand nicht tot war, sondern wieder erwachte, oder dass nach einem Todesfall weitere folgten.

Dadurch kamen die verschiedenen Bräuche zustande, weil man auf der Suche nach Erklärungen war. Aberglaube rührt aus dem Geschehen heraus. Wenn jemand plötzlich starb, ohne dass es eine Krankheit oder Ähnliches gab, und der Nachbar sagte: Bei dir auf dem Dach saßen drei Krähen und haben gerufen, war es klar. Die Krähen waren diejenigen, die den Tod angekündigt haben.

Wurde früher anders mit Sterben und Tod umgegangen?

Ja, ganz klar. Einerseits hatte man Respekt und Angst vor dem Tod, andererseits war man enger mit ihm in Kontakt. Das war dem Umstand geschuldet, dass man sich selbst um das eigene Ableben und das der Familienmitglieder gekümmert hat. Gerade auf dem Land gab es lange keine anderen Möglichkeiten, wie Bestatter, die heute alles abnehmen, Krankenhäuser oder Altersheime.

Man war zu Hause, ein festes Familienkonstrukt, und wenn jemand starb, war man auch bei ihm. Allein dieses Intime führt dazu, dass die Menschen mit dem Ende beschäftigt waren, seit sie Kind waren. Weil die Kinder auch gesehen haben, wenn Großvater oder Großmutter offen aufgebahrt wurden.

Wie verbreitet waren bestimmte Bräuche im Umgang mit dem Tod?

Die Verbreitung war deutschland- bzw. europaweit, und einige Bräuche, wo man wieder unterscheiden muss, gibt es heute noch weltweit. Und man findet viele Parallelen. Zum Beispiel der Brauch der Totenkrone für jung Verstorbene, als Ehrung der Jungfräulichkeit und Zeichen der Himmelshochzeit, als Gegenstück der Brautkrone, wie es früher üblich war. Das ist ein Brauch, den man europaweit findet.

Oder das Verhängen des Spiegels in der Sterbestunde, um den Tod nicht zu doppeln!

Diese Bräuche gibt es im ganzen deutschsprachigen Raum. In der jüdischen Bevölkerung macht man das heute noch, das Spiegel verhängen. Egal, welcher Brauch es ist, man kann es anhand der Namen regional beziehen, aber sonst gibt es die im ganzen deutschsprachigen Gebiet.

Welche Bräuche finden Sie noch bemerkenswert?

Zum Beispiel, dass es durchaus Brauch war, dass bei der Hochzeit der Tischler kam, um Maß für die Särge zu nehmen. Er hat nicht das Brautpaar vermessen, sondern die Eltern. Wenn jemand heiratete, war es quasi die Elterngeneration, die sich zur Ruhe setzte, und dann dauerte es sozusagen nicht mehr lange bis zum Ableben. Das war etwas Alltägliches, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann.

Oder, dass man mit dem Leichenzug zum Friedhof ging, aber vor der Beerdigung noch einmal den Sarg öffnete, um sich zu überzeugen, dass der Verstorbene noch ordnungsgemäß drin liegt und man ihn sozusagen ordentlich dem Jenseits übergibt. Oder auch einerseits die große Vorsicht, wenn der Verstorbene zu Hause aufgebahrt war.

Man musste aufpassen, dass keine Träne und kein Haar auf ihn fällt, weil alles sterben musste, was man mitgab, gewissermaßen man selbst. Andererseits gab man ihm absichtlich etwas mit, was man loswerden wollte, zum Beispiel eine Krankheit wie Neurodermitis oder Schuppenflechte – weil man der Auffassung war, dieses Leiden vergeht dann, so wie der Verstorbene unter der Erde.

Begräbnisstätten, hier der Leipziger Südfriedhof, strahlen oft etwas Mystisches und Geheimnisvolles aus. Foto: Lucas Böhme
Begräbnisstätten, hier der Leipziger Südfriedhof, strahlen oft etwas Mystisches und Geheimnisvolles aus. Foto: Lucas Böhme

Klingt nach einem recht unbefangenen Verhältnis zum Tod.

Unbefangener auf jeden Fall. Weil für alle feststand, dass das Leben endlich ist. Natürlich muss man dazusagen, dass der Tod viel allgegenwärtiger und bedeutend jünger war als heute. Aber er war mitten unter den Menschen und wurde nicht so ausgegrenzt.

In früheren Erzählungen zum Tod spielen ja auch Wesen wie Geister, Nachzehrer oder Wiedergänger eine große Rolle.

Das sind unterschiedliche Gestalten, die jede ihren Zweck erfüllen und eine Angst im Hintergrund besitzt. Bei Geistern und Wiedergängern war die Vorstellung, ein Mensch soll nach seinem Tod wohlverdiente Ruhe haben, damit er ins Himmelreich fahren kann und Seelenheil erfährt. Dafür waren die Hinterbliebenen zuständig, sie mussten alles tun, von Gebeten bis zum Singen geistlicher Lieder oder dem Erfüllen eines letzten Wunsches.

Wenn der nicht erfüllt werden konnte, der Verstorbene ein schlechtes Gewissen hatte oder ein Geheimnis nicht preisgegeben, führte das dazu, dass er keine Ruhe findet und umhergeistert. Das findet man in vielen Sagen und Legenden. Der Wiedergänger hat oft mit früh Verstorbenen zu tun.

Gerade Kinder wurden zu Wiedergängern, wenn sie ihre Ruhe nicht erfahren können, weil die Lebenden noch zu sehr an ihnen hängen. Da ist der psychologische Faktor bei den Geschichten, ein mahnendes Symbol: Lasst den Toten ihre Ruhe, wendet euch wieder dem Leben und der Familie zu, der Tote ist jetzt in einer anderen Welt!

Ort der Erinnerung? Foto: Marko Hofmann
Ort der Erinnerung? Foto: Marko Hofmann

Was hat es mit der Vorstellung von Nachzehrern auf sich?

Das waren sozusagen die, die Ursachen für Epidemien und Krankheiten waren. Ihnen wurde nachgesagt, sie zehren sich vorrangig nach ihren Angehörigen, aber beispielsweise in Pommern gibt es eine Sage, die erzählt, dass der Nachzehrer keine Ruhe gibt, selbst nachdem er schon seine ganze Familie geholt hat, nach der er sich zehrt. Er geht auf den Kirchturm, läutet die Glocke, und alles muss sterben, so weit der Schall reicht.

So wurde versucht zu erklären, wie es sein kann, dass in zwei Wochen eine ganze Ortschaft ausstarb. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Wenn man zum Beispiel im Ort jemand hatte, der sich vom Rest der Gesellschaft abhob und dann starb, als das große Sterben losging, war klar, dass er der Nachzehrer gewesen ist. Damit wurden Epidemien wie Pest oder Cholera versucht zu erklären. Heute weiß man, dass es keinen Nachzehrer gab, sondern es an ansteckenden Krankheiten lag.

Das erinnert irgendwie an den Vampirglauben!

Der hat noch eine andere Grundlage. Der Nachzehrer ist eher ein Sympathieglaube: Er wird von der Sehnsucht getrieben, dass er die Liebsten bei sich haben möchte. Der Vampir saugt das Blut, um am Leben zu bleiben, aber ihn interessieren die nicht, denen er das Blut aussaugt. Nachzehrer und Wiedergänger werden gern mit Vampiren gleichgesetzt, wenn man sich aber volkskundlich damit beschäftigt, hat jeder Begriff eine andere Bedeutung.

Die Gleichsetzung rührt auch daher, dass man Gräber aushob, um einen Nachzehrer von seinem Tun abzuhalten. Es hieß, man müsse ihm den Kopf abschlagen, damit er nicht zehren kann, da die Vorstellung war, er sauge zum Beispiel am Totenhemd und damit im übertragenen Sinne an der Lebenskraft eines Familienmitglieds. Solche Gräber findet man. So kommen Parallelen zu Vampiren auf, die damit aber nichts zu tun haben.

Waren solche Glaubenselemente in Zeiten von Krisen, zum Beispiel Epidemien, besonders ausgeprägt?

Absolut. Gerade der Nachzehrer hatte in Zeiten von Epidemien und Seuchen Hochkonjunktur. Aber ein Wiedergänger nicht, der war unabhängig von diesen Zeiten. Er hatte eher mit persönlicher Trauer zu tun und wurde sozusagen von den Angehörigen zum Wiedergänger gemacht, ohne ein „Nachsterben“ mit sich zu bringen.

Heute würden viele diese Vorstellungswelt belächeln. Andererseits war sie aber ein Instrument, mit der Todeserfahrung fertigzuwerden.

Eben! Der Mensch versucht ja auch heute noch, sich Sachen zu erklären, damit er sich ein Verständnis und eine Bewältigungsstrategie aneignen kann.

Auch durch die COVID-19-Pandemie ist der Tod heute wieder präsenter geworden. Können wir aus früheren Zeiten etwas lernen?

Ja! Deswegen habe ich auch ein Buch geschrieben und biete die Führungen an: Um den Menschen zu zeigen, was wir verloren haben, aber uns auch wieder ein Stück weit aneignen können. Der Umgang unserer Vorfahren war vielleicht in mancher Hinsicht naiv. Aber allein die rechtzeitige Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, das Sprechen miteinander, wie sich der letzte Weg vorgestellt wird! Durch meine Arbeit als Trauerrednerin und als ich beim Bestatter gearbeitet habe, habe ich gesehen, dass die Menschen ein friedvolles Gefühl überkommt, die bewusst bei ihrem verstorbenen Familienmitglied sind.

Dass die, die zum Beispiel eine Aufbahrung machen, eine Grabbeigabe mitgeben oder den Sarg bemalen, viel besser loslassen können. Gerade bei der Aufbahrung wird einem ja bewusst, dass da nicht der Mensch ist, der einmal war, dass er nicht mehr wiederkommt. Das Bewusstsein hat man nicht, wenn derjenige im Krankenhaus stirbt. Oft hat man ihn nicht mehr gesehen, gerade in Corona-Zeiten, weil man nicht mehr rein darf. Dann bei der Beerdigung eine Urne zu sehen – das ist so abstrakt, dass dazwischen was zu fehlen scheint.

Heute wird einem viel aus den Händen genommen, sodass man verloren und allein dasteht. Und in den Trauergesprächen heißt es: Ich wusste nicht, was ich machen sollte, wir haben nie darüber gesprochen. Diese Hilflosigkeit verstärkt den Verlust noch. Da waren die Menschen früher einfacher dran, indem sie das zu Lebzeiten festgelegt haben, und so mussten sie sich keine Gedanken mehr machen. Und schon gar nicht ihre Angehörigen.

Hat sich Ihr eigenes Empfinden durch die Beschäftigung mit dem Thema geändert?

Ich möchte es so beschreiben, dass ich in vielen Momenten Demut empfinde, vor dem Leben, den Dingen, die ich besitze, die mir wichtig sind und dass ich zu schätzen weiß, was das Leben einem schenkt und dass man das nutzen sollte. Wenn man Wünsche und Ziele hat, dass man die auf jeden Fall umsetzt und nicht auf die lange Bahn schiebt. Nicht immer wieder sagen: Ich würde jetzt gerne dahin fahren oder ein anderes Buch schreiben, sondern machen! Weil man nicht weiß, wann man gar keine Möglichkeit mehr dazu hat.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Zur Website von Anja Kretschmer

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Das Interview mit Anja Kretschmer „Wie gingen die Menschen einst mit dem Tod um?“ erschien erstmals am 30. April 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG.

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