„Während manche Insekten zurückgehen, können andere häufiger werden“, so könnte man das Ergebnis einer neuen Studie des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) zusammenfassen. Doch so einfach ist die Sache nicht, denn im Kern bestätigt die Meta-Studie das weltweit beobachtbare Insektensterben. Und gleichzeitig macht sie den Insektenforschern klar, wie erschreckend wenig sie über Vielfalt und Interaktion der Insekten bislang überhaupt wissen.

Bestandsveränderungen einer Insektengruppe, z. B. Heuschrecken, sagen wenig darüber aus, wie es anderen Insekten im selben Lebensraum ergeht, z. B. Fliegen. Denn während sich Insektengruppen an manchen Orten ähnlich entwickeln, können die Trends an anderen Orten ganz unterschiedlich sein. Diese Ergebnisse einer Metastudie haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Fachzeitschrift Biology Letters veröffentlicht.

„Insektensterben“ im Fokus der Öffentlichkeit

Das Forschungsteam unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) untersuchte Insekten-Langzeitdaten von mehr als 900 Orten weltweit. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, mehrere Artengruppen gleichzeitig zu beobachten, um die Natur zielgerichtet schützen zu können.

Das sogenannte „Insektensterben“ ist 2017 ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Damals veröffentlichten Forschende eine Abnahme der Fluginsektenbiomasse in westdeutschen Naturschutzgebieten von über 75 Prozent in knapp 30 Jahren. Die Studie ließ viele Menschen erkennen, dass es heute weniger Insekten gibt als früher. Seitdem sind weltweit viele neue Studien erschienen, die oft große Rückgänge zeigen. Hunderte Medien haben über das Thema berichtet.

Während die Bestände verschiedener Insektengruppen, beispielsweise Käfer und Schmetterlinge, mancherorts einen ähnlichen Verlauf nehmen, können sie sich andernorts ganz unterschiedlich entwickeln. Das Foto zeigt einen Vierbindigen Schmalbock (Leptura quadrifasciata) und ein Landkärtchen (Araschnia levana).<br /> Foto: Oliver Thier
Während die Bestände verschiedener Insektengruppen, beispielsweise Käfer und Schmetterlinge, mancherorts einen ähnlichen Verlauf nehmen, können sie sich andernorts ganz unterschiedlich entwickeln. Das Foto zeigt einen Vierbindigen Schmalbock (Leptura quadrifasciata) und ein Landkärtchen (Araschnia levana).
Foto: Oliver Thier

Rückgang vor unser aller Augen

Unter Leitung von iDiv, MLU, der Universität Jena und des UFZ entwickeln Forschende seit 2018 eine neue Datenbank. Sie beinhaltet hunderte internationaler Studien, welche über viele Jahre die Häufigkeit verschiedener Insekten untersucht haben. Geleitet wird das Team von Dr. Roel van Klink, Postdoktorand bei iDiv und der MLU.

„Es ist alarmierend, dass ein solcher Rückgang vor unseren Augen passiert, und niemand gesehen hat, dass er an ganz vielen Orten gleichzeitig stattfindet“, sagt van Klink. „Das zeigt, wie wichtig es ist, unsere Umwelt zu überwachen.“

Das Monitoring von Insekten ist jedoch schwierig, weil die meisten klein sind und weil es sehr viele verschiedene gibt. Allein in Deutschland gibt es 30.000 Insektenarten. Zweitautorin Dr. Diana Bowler fügt hinzu: „Die meisten Monitoring-Programme untersuchen nur eine Insektengruppe. Niemand hat untersucht, ob der Zustand der untersuchten Gruppen auch etwas über den Zustand der anderen aussagt.“ Bowler ist Postdoktorandin bei iDiv, der Universität Jena und dem UFZ.

Die vergebliche Suche nach Indikatorarten

Für die neue Studie untersuchten die Forschenden, ob Bestandsveränderungen bei einer Insektengruppe Aussagen über Veränderungen anderer Insektengruppen erlauben. Wenn zum Beispiel Schmetterlinge zurückgehen, bedeutet das, dass auch Käfer, Fliegen und Bienen zurückgehen? Wenn Trends bei einer Artengruppe Rückschlüsse auf andere Gruppen erlauben, würden sie sich als Indikatoren eignen.

Der Vorteil wäre, dass man nicht alle Insektengruppen in einem Monitoring überwachen müsste. Forschende und Entscheidungsträger könnten dann Daten über eine Insektengruppe nutzen, um Schlussfolgerungen und Schutzempfehlungen für andere Insekten abzuleiten.

Allerdings fanden van Klink und sein Team kaum Hinweise auf solche Indikatorarten: Die Bestände verschiedener Artengruppen zeigten oft unterschiedliche Trends.

„Am ähnlichsten waren noch die Trends bei Käfern und Schmetterlingen, die oft gleichzeitig zu- oder abnahmen“, sagt van Klink. „Aber selbst bei diesen beiden Insektengruppen war die Korrelation gering. Heuschrecken dagegen machen komplett ihr eigenes Ding. Ihre Bestandsveränderungen korrelieren mit keiner anderen Artengruppe“.

Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse der Studie, was die Forschenden schon seit Jahren sagen.

Die Natur ist alles andere als unterkomplex

„Insekten sind keine homogene Gruppe, die alle weltweit einen dramatischen Rückgang verzeichnen, wie uns manche Schlagzeilen glauben machen“, sagt Senior-Autor Prof. Jonathan Chase, Forschungsgruppenleiter bei iDiv und der MLU.

„Die Natur ist nicht so einfach, wie wir es gerne hätten“, fügt van Klink hinzu. „Zweifellos verändert der Mensch die Natur in beispielloser Weise. Es ist unsere Aufgabe herauszufinden, wie, warum und wo diese Veränderungen stattfinden und welche Insektengruppen davon betroffen sind.“

Die Studie unterstreiche die Notwendigkeit, Bestandsveränderungen vieler Insektengruppen gleichzeitig zu monitoren und ihre Ursachen besser zu verstehen.

„Wir können nicht einfach eine Gruppe von Insekten beobachten und davon ausgehen, dass alle anderen dasselbe tun“, sagt Diana Bowler. „Wir müssen uns um die gesamte Vielfalt der Insekten kümmern.“

Diese Forschungsarbeit wurde u. a. gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG; FZT-118). Jonathan Chase, Roel van Klink

Original-Publikation: van Klink, R., Bowler, D. E., Gongalsky, K. B., Chase, J. M. (2022). Long-term abundance trends of insect taxa are only weakly correlated. Biology Letters.

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