Sachsen, Angeln, Friesen und Normannen – die englische Geschichte ist eine Geschichte der Migration. Und das ist nicht nur in alten Chroniken nachlesbar oder in Grabbeigaben abzulesen, es streckt auch in den Genen der Engländer. Forscher aus Lanceshire und Leipzig haben jetzt das Erbgut aus alten englischen Gräbern untersucht und die Einwanderungsgeschichte auch in den Genen der Bestatteten nachzeichnen können.

In der bisher umfangreichsten Studie zur Populationsgeschichte im frühen Mittelalter hat ein interdisziplinäres Team von Genetikern und Archäologen unter der Leitung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der University of Central Lancashire die Überreste und das Erbgut von über 400 Individuen aus dem damaligen Großbritannien, sowie Irland, Deutschland, Dänemark und den Niederlanden untersucht.

Anhand der Ergebnisse ist es den Forschenden nun gelungen, eine der größten Bevölkerungsumwälzungen der nachrömischen Zeit detailliert zu beschreiben.

Als die Angeln und Sachsen kamen

Ungefähr dreihundert Jahre nachdem die Römer England verlassen hatten, schrieben Gelehrte wie Bede über die Angeln und Sachsen und deren Einwanderung nach Großbritannien. Forschende vieler Disziplinen, darunter Archäologen, Historiker, Linguisten und Genetiker, haben seitdem darüber debattiert, was er mit seinen Worten beschrieben haben könnte, welches Ausmaß dieses Migrationsereignis hatte, wie es ablief und welche Auswirkungen es hatte.

Diese neue genetische Untersuchung zeigt jetzt, dass die Bevölkerung in Ost- und Südengland zu etwa 75 Prozent aus Einwandererfamilien bestanden hat, deren Vorfahren aus Kontinentaleuropa stammen, aus an die Nordsee grenzenden Regionen, einschließlich der heutigen Niederlande, Deutschlands und Dänemarks. Diese Familien vermischten sich mit der damals in Großbritannien lebenden Bevölkerung – von Region zu Region und von Gemeinde zu Gemeinde jedoch in unterschiedlichem Maße.

„Wir haben 278 alte Genome aus England und Hunderte aus Kontinentaleuropa analysiert und konnten faszinierende Einblicke in die Bevölkerungsgeschichte und die Geschichte einzelner Menschen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs gewinnen“, sagt Joscha Gretzinger, Erstautor der Studie. „Wir haben jetzt nicht nur eine Vorstellung vom Ausmaß der Migration, sondern auch davon, wie sie Gemeinschaften und Familien beeinflusst hat.“

Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Broschen und einem Römischen Löffel. Dieses Grab Nr. 66 aus Oakington Cambridgeshire beherbergte eine Frau gemischter Abstammung. Foto: Duncan Sayer
Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Broschen und einem Römischen Löffel. Dieses Grab Nr. 66 aus Oakington Cambridgeshire beherbergte eine Frau gemischter Abstammung. Foto: Duncan Sayer

Im Vergleich mit veröffentlichten genetischen Daten von mehr als 4.000 damals und 10.000 heute lebenden Europäern konnten Gretzinger und seine Kollegen kleinste genetische Unterschiede zwischen den eng verwandten Gruppen feststellen, die damals an der Nordseeküste lebten.

Migranten vermischten sich mit der einheimischen Bevölkerung

Nach ihrer Ankunft vermischten sich die Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung. In einem Fall, einem angelsächsischen Gräberfeld aus Buckland bei Dover, konnten die Forschenden einen Stammbaum über mindestens vier Generationen hinweg rekonstruieren und den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sich Migranten und Einheimische vermischt hatten.

Diese Familie wies ein hohes Maß an Vermischung beider Genpools auf. Insgesamt fanden die Forschenden auf den untersuchten Friedhöfen sowohl einheimische als auch migrantische Elitebestattungen.

Dem 70 Autorinnen und Autoren umfassenden interdisziplinären Team ist es gelungen, archäologische Daten mit den neuen genetischen Erkenntnissen zu verknüpfen. So konnten sie beispielsweise zeigen, dass Frauen mit Migrationshintergrund häufiger mit Grabbeigaben, insbesondere mit Schmuckgegenständen wie Broschen und Perlen, bestattet wurden, als Frauen einheimischer Herkunft.

Interessanterweise waren Männer, die mit Waffen bestattet waren, etwa gleich häufig migrantischer oder einheimischer Herkunft. Diese Unterschiede wurden lokal ermittelt, wobei über die gesamte Bandbreite der genetischen Herkunft hinweg Elitebestattungen oder reich ausgestattete Grabstätten beobachtet werden konnten.

So war beispielsweise eine Frau, die in Cambridgeshire mit einer kompletten Kuh begraben wurde, genetisch gemischter Herkunft, wobei ein Großteil ihres Erbguts lokaler Abstammung war.

„Wir entdeckten teils erhebliche Unterschiede, wie sich diese Migration auf die Gemeinschaften auswirkte“, sagt Duncan Sayer, Archäologe an der University of Central Lancashire und einer der Hauptautoren der Studie. „An einigen Orten sehen wir deutliche Anzeichen für eine aktive Integration zwischen Einheimischen und Einwanderern, wie im Fall von Buckland bei Dover oder Oakington in Cambridgeshire.

In anderen Fällen jedoch, wie in Apple Down in West Sussex, wurden Menschen mit eingewanderten und solche mit einheimischen Vorfahren getrennt voneinander auf dem örtlichen Friedhof bestattet. Vielleicht ist dies ein Beleg für eine gewisse soziale Abgrenzung beider Gruppen voneinander an diesem Ort.“

Auswirkungen auf die heutige englische Bevölkerung

Anhand der neuen Daten ist es dem Team außerdem gelungen, die Auswirkungen dieser historischen Migration auf die heutige Zeit untersuchen. So stammen nur rund 40 Prozent der DNA heute lebender Engländer von diesen frühen kontinentaleuropäischen Vorfahren ab, während etwa 20 bis 40 Prozent ihres genetischen Erbes möglicherweise aus dem heutigen Frankreich oder Belgien stammen.

Diese genetische Komponente lässt sich anhand von archäologischen Skelettfunden und Grabbeigaben fränkischer Herkunft nachweisen, wie sie etwa in frühmittelalterlichen Grabstätten, insbesondere in Kent, gefunden wurden.

„Es bleibt unklar, wie diese zusätzliche Abstammungslinie nach England gelangt ist. Wir sehen eine Verwandtschaft dieser Linie mit Frankreich und anderen Ländern südlich des Ärmelkanals. Sie könnte mit punktuellen Ereignissen wie der normannischen Eroberung Englands im Zusammenhang stehen, oder aber auch das Ergebnis jahrhundertelanger Mobilität über den Ärmelkanal hinweg gewesen sein“, sagt Stephan Schiffels, leitender Autor der Studie.

„Zukünftige Arbeiten, die speziell auf das Mittelalter und die daran anschließenden Zeitperioden abzielen, werden die Natur dieses zusätzlichen genetischen Signals zukünftig aufdecken können.“

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