Was ist das eigentlich, was die Bertelsmann Stiftung da am Donnerstag, 11. Dezember, veröffentlicht hat? - "Chancen-Spiegel" nennt sie es und vergleicht (mal wieder) die unvergleichlichen Bildungssysteme der Bundesländer nach ihre Bildungschancen für die Kinder. Es ist also eine Art Versuch, Gerechtigkeit anhand von Zahlen darzustellen. Aber gelingt das diesem Zahlenwerk? - Die Antwort lautet: Nein.

Auch wenn die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, Cornelia Falken, gleich wieder Grund sieht. Aber der Grund ist ein alter. Und bislang sieht es auch auf der Ebene der neuen CDU/SPD-Regierung in Sachsen nicht so aus, als sei man gewillt, daran irgendetwas zu ändern.

“Eine Gesellschaft wird dann als gerecht bezeichnet, wenn alle ihre Mitglieder die gleichen Möglichkeiten haben, sich für gesellschaftlich mögliche Optionen zu entscheiden – also die gleichen Rechte, Freiheiten und Chancen besitzen, ihr Leben zu gestalten. Mit Blick auf die Schulbildung kann hierzulande davon keine Rede sein. Die Bildungschancen sind in Sachsen ungleich verteilt, und zwar sozial und regional. Diese Ungleichheit droht sich zu verstärken”, stellt Cornelia Falken fest. Recht hat sie.

Tatsächlich ist das neue Zahlenwerk der Bertelsmann Stiftung eine Ohrfeige für die vom Finanzminister verantwortete Bildungspolitik in Sachsen. Er bestimmt mit seinen Mittelzuweisungen, wie viele Lehrer es gibt und wie voll die Klassen werden. Ohne genügend Lehrer keine Förderung für benachteiligte Schüler, keine Abfederung von besonderen Förderschwerpunkten. Da nutzen auch Medaillen von internationalen Schüler-Olympiaden nichts. Eine kleine Leistungselite ersetzt keine fundierte Arbeit in der Breite.

“Laut dem aktuellen Chancenspiegel der Bertelsmann-Stiftung gehört Sachsen in der Dimension Kompetenzförderung zwar zur Spitzengruppe der Bundesländer, schafft es aber in den Bereichen Integrationskraft und Durchlässigkeit nur auf einen Platz im Mittelfeld”, stellt Falken fest. “In der Zertifikatsvergabe, also bei den Schulabschlüssen, landet Sachsen gar nur in der unteren Ländergruppe. Hier sind die Ungleichheiten zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten groß. Der Anteil der Abgänger ohne Hauptschulabschluss ist im bundesweiten Vergleich einer der höchsten und unterliegt großen Schwankungen – laut der Studie lag er je nach Region zwischen 5,5% und 13,4%. Zu den Regionen, die einen geringen Anteil bei der Vergabe von Hochschulzugangsberechtigungen aufweisen, dafür aber einen hohen Anteil an Absolventen ohne Hauptschulabschluss besitzen, gehören Nord- und Mittelsachsen sowie Görlitz.”

Es gibt aber auch das andere Extrem – Leipzig: Hier sind die Schulabgängerzahlen ohne Abschluss die höchsten, gleichzeitig sind die Zahlen der Abiturienten hoch. Was beides miteinander zu tun hat, denn wenn die – in Sachsen so genannte – Oberschule als Regelschule nicht funktioniert, übernimmt logischerweise das Gymnasium diese Rolle, selbst dann, wenn ein Drittel der Gymnasiasten am Ende trotzdem eine Facharbeiterausbildung anstrebt.Die Studie reiht Sachsen zwar mit eine Gymnasialquote von 41,9 Prozent im deutschen Mittelfeld ein. Hier gilt bei den Aposteln der neueren Effizienz-Bewegung: Hoher Wert = tolles Ergebnis. Aber das ist eine Narretei, mit der sich die OECD-Länder gegenseitig ins Bockshorn jagen. Denn international sind Abitur-Zahlen nicht vergleichbar. Dazu würde es eine Art internationalen Vergleichstest brauchen, den es nicht gibt. Die beteiligten Länder haben gar nichts gekonnt, wenn immer mehr Kinder aufs Gymnasium gehen, am Ende aber trotzdem nicht studieren. Oder – was für alle Seiten noch teurer ist – das Studium abbrechen.

Aber das diskutiert dieses neue Rechen-Spiel der Bertelsmann Stiftung nicht.

Und so kann auch Cornelia Falken nur aufgreifen, was an eh schon bekannten Erkenntnissen hier wieder sichtbar wird: “Es macht folglich einen Unterschied, wo Kinder und Jugendliche hierzulande aufwachsen. Auf dem Land und in bestimmten Stadtteilen sind die Chancen auf einen hohen Schulabschluss eher gering. Um auf derartige regionale Effekte im Bildungserwerb wirksam reagieren zu können, fordert Die Linke das Kultusministerium auf, das Bildungsangebot insbesondere im ländlichen Raum zu verbessern und eine regionalisierte Bildungsplanung einzuführen. Dazu sollte auch die Gemeinschaftsschule gehören, die aufgrund ihrer Struktur den Umgang mit sozialer und kultureller Vielfalt ermöglicht.”

Womit sie zwar einen Ausweg aus der organisierten Bildungsmisere nennt. Aber das würde auch bundesweit ein Umdenken in Sachen Bildung notwendig machen – weg von einem auf Elite gedachten System mit starker Auslese schon in frühen Jahren hin zu einem längeren gemeinsamen Lernen, das auch die Regelschule wieder aufwertet und stärkt.

Denn was das sächsische Bildungssystem klar kennzeichnet, ist seine starke Fixierung auf Auslese und Elite. Ein System aber, das Auslese zum Kernelement hat, kann keine gleichen Chancen für alle bereitstellen. Das beißt sich. Deswegen ist die “Exklusionsquote” in Sachsen seit Jahren erschreckend hoch – auch 2012 wurden 6,3 Prozent der Kinder schon bei der Einschulung in Förderschulen abgeschoben (Bundesdurchschnitt: 4,8 %). 8,8 Prozent der eingeschulten Kinder in den allgemeinbildenden Schulen habe Förderbedarf (Bundesdurchschnitt: 6,6 Prozent), von einer echten Inklusion kann keine Rede sein. Dazu müssten deutlich mehr Lehrer eingestellt werden, die diese Betreuung übernehmen könnten.

Dass der Anteil der Kinder, die nach der 4. Klasse aufs Gymnasium wechseln, 2011 einfach mal um 4 Prozentpunkte absackte, darüber staunt selbst die Bertelsmann Stiftung. Damals traten die neuen (schärferen) Kriterien für eine Gymnasialempfehlung in Kraft. “Sprunghaft” ist das, aber politische Spiegelfechterei – so wie die Umbenennung der Mittelschule zur Oberschule.

So ist Sachsen bei “Integrationskraft” und “Durchlässigkeit” nur Mittelfeld.

Bei “Kompetenzförderung” fällt leider auch der Bertelsmann Stiftung nichts anderes ein als der INSM: Man nimmt die Testwerte aus den diversen PISA- und anderen Tests, in denen sächsische Schüler immer wieder mit hohen Punktzahlen auffallen. Was dann freilich überhaupt nicht erklärt, warum dann trotzdem über 9 Prozent ohne Schulabschluss die Schule verlassen. Zwischen diesen Tests und der Zeugnisvergabe passiert also irgendetwas, was aus kompetenten Schülern zumindest auf dem Papier “Versager” macht.

Wobei ja bekanntlich erst im November eine Erhebung der INSM zeigte, dass der Faktor “Schulabbrecher” ebenfalls irreführend ist, denn die meisten sächsischen Schüler holen ihre Schulabschlüsse nach der regulären Schulzeit nach und hängen auch noch einen Berufsabschluss dran. Solche Erhebungen machen tatsächlich immer wieder nur deutlich, wie unterschiedlich die deutschen Schulsysteme sind. Und wie unvergleichlich am Ende.

Tatsächlich spart sich der Freistaat Sachsen sein Schulsystem schön und halst wichtige Bildungskosten dann nachgelagert anderen Institutionen auf. Auch den Kommunen, die dann wieder mit knappen Finanzmitteln ausbügeln müssen, was die Narren der “Schuldenbremse” ganz systematisch verbockt haben.

Zum neuen Zahlenwerk der Bertelsmann Stiftung: www.chancen-spiegel.de

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