An den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel wagt man sich als Normalsterblicher und politischer Endverbraucher eher selten. Seine Schriften und Gedanken sind nicht einfach so zu verstehen, erst recht nicht einfach übertragbar auf gegenwärtige weltpolitische Konstellationen.

Die Theorie des schwäbischen Denkers wird ebenso unterschiedlich gelesen und interpretiert, dennoch muss Hegel als konsequenter Vor- und Nachdenker einer (fortdauernden) Aufklärungsepoche gesehen werden.

Was eine Generation zuvor der Königsberger Immanuel Kant mit der „immerwährenden Beschäftigung mit dem bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir“ formulierte, setzte Hegel einige Jahre später mit dem „Gesetz der Allbewegung“ und dem Begründen einer Dialektik aller Veränderungsprozesse in einer geistigen Umwälzung innerhalb der intellektuellen Kreise in Deutschland und Europa fort.

Ebenfalls 1770 geboren, war der Freund des unglücklichen Friedrich Hölderlin wie so viele andere berühmte Zeitgenossen erfasst von dem weltverändernden Zeitereignis, dessen Wirkung bis heute nachhallt. Gemeint ist die Revolution in Frankreich 1789–99.

Nachdem sie zunächst Erleichterung, ja Begeisterung ob der Befreiung vom ungerechten System des Feudalabsolutismus hervorrief, brachte der Lauf der weiteren revolutionären Ereignisse die Frage nach der Rolle der Gewalt in der Geschichte aufs Tapet bzw. in die Studierstuben und Diskussionsrunden.

Geteilter Natur wurden immer stärker die Ansichten zu den revolutionären Ergebnissen in Frankreich zu Beginn der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts, parallel zur Teilung und Heterogenisierung des revolutionären Lagers der französischen Bürger und Bürgerinnen.

In Deutschland wurden (oder waren es bereits vorher) die Kreise um Goethe und Schiller immer kritischer gegenüber dem revolutionären Geist und folgenden Furor, das waren vor allem die „Alten“, Arrivierten und im aufgeklärten Absolutismus „Angekommenen“; die „jungen Wilden“ um die Gebrüder Schlegel, besagter Hölderlin und das Philosophie-Talent Fichte (alle um das Jahr 1770 wie Hegel geboren) überschlugen sich beinahe vor Begeisterung, wenn sie von Mirabeau, Lafayette, Danton oder Robespierre hörten.

Auch der „alte“ Herder – immerhin noch 5 Jahre älter als Goethe – war voll revolutionärem Feuer, sodass letzterer ihn verärgert „einen Jakobiner reinsten Wassers“ schalt.

Angetreten waren die Rebellen in Frankreich mit der quasireligiösen Forderung nach Freiheit und Gleichheit (vor dem Gesetz). Der „Brüderlichkeits”-Wunsch kam erst bei der Nachfolge-Revolution 1830 auf. Freiheitlich und gleichberechtigt wollte man(n) und frau fortan leben, die Standesschranken überwinden und zum „ewigen Frieden“ (Kant) gelangen.

Doch nachdem in einer gewaltsamen Revolte das „alte Regime“ (Ancien Régime) bastillestürmend gestürzt wurde, der König sich die hauptstadtfarbene Kokarde, die mit dem Bourbonenweiß ergänzt wurde, aufsetzte, war es mit der umwälzenden Euphorie schon (fast) vorbei.

Im Anfang steckte bereits das Ende. Umwälzungen, hier „Revolutionen“ zeigen stets ein ähnliches Muster: Nach der erfolgreichen Volksbewegung, die eine ungerechte Regierung stürzt, treten schnell Erscheinungen einer Heterogenisierung in der zunächst geschlossenen Frontlinie der Revolutionäre auf, unterschiedliche Interessen kristallisieren sich heraus, Fraktionen entstehen, die sich erneut aufs Erbittertste bekämpfen.

Der Tod – physisch oder ideell – immer auch ein Meister der Revolte. In Frankreich nannten sich die Gruppierungen des siegreichen Bürgertums „gemäßigte Royalisten“, „Girondisten“ und „linke Jakobiner“, „Berg“ und „Sumpf“ – allesamt unfähig, die demokratischen Ziele in der (aufklärerischen) Theorie eines Voltaire, Montesquieu und Rousseau in die Praxis umzusetzen.

Dazu kam noch die Bedrohung aus dem Ausland: Fast alle anderen europäischen Großmächte wie Österreich, Russland, England, Preußen verbündeten sich gegen den „regime change“ in Paris, rüsteten zum Krieg, schworen Vergeltung und Rache für die gewaltsame Verdrängung des Feudaladels in Frankreich.

Die Eskalation war nicht aufzuhalten. Die Kriegserklärung durch das französische Parlament am 20. April 1792 wurde beinahe dankbar in Wien und St. Petersburg aufgenommen, ebenso in London und Potsdam, um dem „Pöbel“ in Frankreich zu zeigen, die „Machtanmaßung“ durch gewählte Volksvertreter zu beenden.

Das Volk, das arbeitende und darbende, kam lange nicht zur Ruhe, immer wieder vertröstet, dass mit einem Machtwechsel nun endlich bessere und gerechtere Zeiten anbrechen würden. Erst der Diktator Napoléon Bonaparte beendete durch seinen Militärputsch 1799 die Wirren der Revolution, der Krieg Frankreich gegen den Rest Europas dauerte noch 15 weitere Jahre, forderte Millionen von Menschenleben.

In einer der letzten Schlachten, dem Völkergemetzel von Leipzig im Oktober fielen 22.000 Russen, knapp 10.000 Österreicher, neben 50.000 Franzosen, ja, selbst 300 Schweden mussten in dieser bislang größten Schlacht der Weltgeschichte ihr Leben lassen. Um Leipzig lagen seinerzeit ca. 30 000 Tote und Verwundete, fast so viel, wie die damalige Stadtbevölkerung zählte.

Eine „Zeitenwende“ wurde und wird sie immer wieder genannt, dieser revolutionäre Sprung hin zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und liberalen Demokratie. Gewiss, ein Fortschritt, aber wohl mehr ein potenzieller. Und einer, der neue Ungerechtigkeiten zutage förderte.

War man in der Lage, ein Heer von Arbeitslosen, das in die explodierenden Fabrikstandorte flutete, in Lohn und Brot zu bringen, Mindeststandards für eine existenzielle Versorgung zu schaffen?

Kriege aus dem Denkarsenal zu verbannen? Menschenfeindliche Ideologien zu ächten? In Menschheitsfortschritt statt in raffinierte Vernichtungsmaschinen zu investieren? Zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert und die Gefährdung des Weltfriedens zu Beginn des 21. beantworten die Fragen.

Von Hegel stammt die nüchtern-analytische Sentenz, die so ganz im Gegensatz zum fortschrittsoptimistischen Geschichtsbild eines Friedrich Schiller steht, das er kurz vor dem Beginn der revolutionären Ereignisse in Paris und Frankreich am 26. Mai 1789 500 begeisterten Studenten in Jena verkündete („Etwas beitragen können Sie alle!“).

Hegel blickt realistisch geläutert auf die traurige Bilanz der danach folgenden Revolutions- und Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 ebenso traurig-ironisch zurück: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“

Wieder stehen sich in der Gegenwart feindliche „Lager“ gegenüber, sprechen sich gegenseitig die Legitimation zu bzw. ab, sind bereit, für ihre Staats- und Gesellschaftsauffassung Menschenleben zu opfern oder einzusetzen. Nur geht es dieses Mal nicht nur um die „Durchsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, zum Aufzwingen eines politischen Willens, sondern nicht mehr und weniger um das Weiterbestehen der gesamten Menschheit, die sich eingerichtet zu haben scheint, dass es einem Großteil immer besser zu gehen hat, und die „anderen“ sich damit abzufinden haben, dass es ihnen nun einmal so geht, dass man den nächsten Tag noch erlebt.

Eines scheint der siegreiche Kapitalismus seit seiner revolutionären Durchsetzung in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts eben nicht in seinem genetischen (sozioökonomischen) Code verändern zu können: Der Mensch ist des Menschen Wolf.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar