Abiturprรผfungen stehen an. Im April. Noch ziemlich frisch und windig und meteorologisch etwas โ€žunรผbersichtlichโ€œ kommt er daher. Wie als sollte man sich auf wรคrmere Sommertage nicht allzu schnell freuen. Natรผrlich tut man es trotzdem, auch wenn die Zeiten nicht besser, eher immer bedrohlicher zu werden scheinen.

Ende Mรคrz freute sich das intellektuelle und kunstbeflissene Leipziger Publikum auf das Gastspiel der frisch gebackenen Oscar-Preistrรคgerin Sandra Hรผller (โ€žThe Zone of Interestโ€œ) im Schauspielhaus. Die Karten waren innerhalb von 30 Minuten weg. Hรผller glรคnzte in der Rolle des Hamlet, ein aktuell renommierter Name verschmolz hier mit dem zeitlosen Tragรถdienstoff.

โ€žDie Zeit ist aus den Fugenโ€œ heiรŸt es gleich im ersten Akt des Shakespeareschen Super-Dramas รผber Machtmissbrauch und Rachedurst. Gegen Vergebung und Menschlichkeit. Tragรถdie eben. Man weiรŸ aus der Schule, dass man daraus lernen soll, mit und durch die Katharsis.

Mit Leiden zum Mit-Leiden gebracht. Idealerweise. Das hat nach dem Erscheinen des englischen Kรถnigsdramas (1603) genauso wenig funktioniert โ€“ 15 Jahre spรคter brach der DreiรŸigjรคhrige Krieg aus โ€“ wie es heute fraglich erscheint, ob der Mensch zur dauerhaften Umkehr, weg von seiner eigenen Zerstรถrung, fรคhig ist.

Europa โ€“ das sind wir auch โ€“ soll sich zwei Jahre nach der Verkรผndung der โ€žZeitenwendeโ€œ auf anderes einstellen. Das Andere heiรŸt โ€žVerteidigungโ€œ, heiรŸt โ€žWehrhaftigkeitโ€œ, heiรŸt tatsรคchlich Krieg. Als wรผrde die โ€žGretchenfrageโ€œ im โ€žHamletโ€œ neu gestellt werden. Sein oder Nichtsein? Denn das wรคre sie, eskalieren die nahen und fernen Konflikte, denen stets die Vernichtung der Gegenseite โ€“ nicht โ€žam Herzenโ€œ โ€“ aber im militรคrischen Kalkรผl zu liegen scheint. Bekommt man nicht durch die Hamlet-Tragรถdie vor Augen gefรผhrt, dass Rachefeldzรผge, das rhetorische Sรคbelrasseln, die demonstrierte Stรคrke eine Kriegsbereitschaft tatsรคchlich fรถrdert? Und das Ringen um die eigene Existenz hรคrter erscheint?

Nebenbei den Willen zur Selbstverteidigung auch auf der gegnerischen Seite stรคrkt? Das Ganze hat nur einen nicht unwesentlichen Haken, lรคsst die Vergleiche zum Mittelalter-Hamlet schief erscheinen: Wir leben im Atomzeitalter. Da heiรŸt es ganz zuletzt nicht: Gewonnen! Die Freiheit verteidigt! Sondern dann sind wir alle ein Haufen Asche mitsamt unserem Planeten, dann geht die eine wie die andere Seite mit den Worten โ€žWir haben gesiegt!โ€œ un-heroisch unter. Am Ende hat der sterbende Hamlet beinahe zeitlos recht. Der Rest? โ€žDer Rest ist Schweigen.โ€œ

Was dagegen tun? Ist diese Entwicklung hin zu Auseinandersetzung und Krieg unausweichlich? Hรคngt sie nur von den Missetaten der Gegenseite ab? Sind die Menschen wirklich dazu verurteilt, Zeuge ihres eigenen Untergangs zu werden? Gibt es keine Alternative zum alttestamentarischen Auge-um-Auge-Prinzip? Es muss sie geben. Weit und weiter denken.

โ€žProgressivesโ€œ Denken der Gegenwart zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es die zerstรถrerischen Phantasien der Anderen, der Umgebung, des Systems demaskiert und bis ins kleinste Detail verurteilt. Von der Mikro- bis zur Makroaggression. Richtig. Aber es ist, es muss etwas geben, dass man dem Kalten, dem Unmenschlichen entgegensetzt. Und das kann, nicht nur nachhaltig, sondern muss logisch-humanistisch gedacht, etwas Besseres, etwas Menschlicheres sein. Wofรผr die Menschen eben leben und nicht sterben wollen.

Eines davon wรคre, den Menschen in seiner Fรคhigkeit zum Selber-Denken, zum Reflektieren und zum Nicht-Mitmachen (Adorno 1966, Erziehung nach Auschwitz) zu bestรคrken. Mit der Hannah-Arendt-Sentenz โ€žNiemand hat das Recht zu gehorchenโ€œ kann man da noch eins draufsetzen. Anders. Diszipliniert. Perfektionistisch. Schreibt sich eine neoliberale Bildungsagentur auf die Fahnen, die unser marodes Schulsystem โ€žreformierenโ€œ will. Fiktiv natรผrlich, das Ganze, in meinem letzten Theaterstรผck (โ€žDer Liebeskomplexโ€œ) fรผr Jugendliche in der Schule.

Die Menschen werden darin frรผhzeitig in โ€žwertvollโ€œ und โ€žwertlosโ€œ unterteilt, sogenannte โ€žgymnasiale Pushbacksโ€œ sorgen fรผr die Relegierung an frรผhere Bildungseinrichtungen, an denen fรผr die Verwaltung des โ€žHumankapitalsโ€œ noch weniger Geld und Zeit notwendig sind. Das Aufstiegsversprechen in der bรผrgerlichen Welt kennt keine zielfรผhrende Gewรคhr, sieht Anpassung, Korrektheit und Selbstdemรผtigung als Voraussetzung fรผr das materielle und standeskonforme Glรผck. Verkรถrpert in der โ€žNeuen effizienten Schulwirtschaftโ€œ.

So jedenfalls sieht es die Erwachsenen-Welt, wittert in Nachdenken und Langeweile sofort die โ€žGammeleiโ€œ oder im schlimmeren Fall den Keim der anarchischen Revolte. Auf der jugendlichen Seite sieht es zunรคchst unverbrauchter und weniger kategorial aus. Da macht man sich zwar Gedanken um den Zustand der Welt, trรคumt vom ewigen Frieden und geteilten Glรผck. Aber der โ€žTraum ist ausโ€œ (Rio Reiser) und die Bemรผhungen, dass er dennoch โ€žWirklichkeit wirdโ€œ werden durch die Nichtfรคhigkeit, das eigene Glรผck hintanzustellen, zunichtegemacht.

Auch nicht viel besser, wenngleich zunรคchst hoffnungsvoller. Aber das Ganze ist auch ein Kunst-Stรผck, Freiheit in รœbereinstimmung mit der anderer zu leben, ohne zu Gefรผhl zu bekommen, im Leben zu kurz gekommen zu sein. โ€žDen Menschen endlich als Selbstzweck zu ehrenโ€œ, ihm seine Freiheit zu lassen, ohne die eigene eingeschrรคnkt zu wissen โ€ฆ

Am Ende des Theaterstรผcks siegt die neoliberale รœbernahmegesellschaft, findet aber nur noch den verzweifelten Rest der Schรผlerschaft vor, der mit leerem Blick resigniert und nicht mehr widerspricht.

Leidenschaftslos, zur Maschine degradiert. Verblรผffend รคhnlich der erwachsenen Eltern-Welt, die den vorgegebenen anti-individuellen Standards zwischen Konsum- und Glรผcksgier (was oft dasselbe ist) kritiklos folgt. Eine Welt, die wir selbst immer nรคher in den Untergang fรผhren. Im tragischen Theaterstรผck.

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