Mal so angefangen: Brecht und Schiller würden wohl verwundert auf das Deutschland im Herbst 2023 schauen. Scheinbar zerbrochen die Idee vom „Einfachen (Kommunismus), das schwer zu machen ist“ (Brecht) oder das Fiasko aufgeklärter Menschlichkeit als weltverbindende Idee. (Schiller) „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ bekäme im heutigen Posthumanismus wohl zuerst und vorrangig die Kritik des Nicht-Genderns.

Des „Pudels Kern“

In dem Zusammenhang sei erwähnt, dass es Goethes Super-Tragödie ebenfalls nicht mehr leicht in den Lehrplänen hat, seine visionäre Dramatik der bürgerlichen Apokalypse des „Alles-Gewinnen-Wollens“ muss nicht mehr verbindlich in der Schule gelesen werden. Faust ist Macho und Frauenverächter. Das ist des „Pudels Kern“.

Vielleicht greift man aber den Gedanken des Faustischen Eskapismus auf, zieht auf eine einsame Insel und steckt sich im Che-Guevara-Retro-Shirt eine Indianer-, pardon, indigene Feder an den Hut. Nimmt als wichtigstes Buch Exuperys „Kleinen Prinzen“ mit auf die Reise und träumt von der sich selbst organisierenden Weltenrettung.

Flieht vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, dass es doch eine vernünftige Menschheit geben muss, das Überleben der eigenen Spezies in die eigenen, aktiven Hände zu nehmen und „Fausts Vision einer künftigen Gesellschaft“ zu verwirklichen. „Mensch und Herde sogleich behaglich auf der neuesten Erde“ – da müsste man über das fortschreitende Artensterben – menschengemacht – nachdenken.

„Als Gleiche angesiedelt an des Hügels Kraft“ – ja, wäre gut, wenn wir im Bereich der Umweltethik umdenken könnten. Die Natur nicht als Feind zu sehen, aber als ernstzunehmendes Objekt, das sich mehr und mehr reaktiv zeigt und „zurückschlägt“. Denn, „da rase draußen Flut auf bis zum Rand“ – Goethe könnte man als vorausblickenden Warner vor einer nicht mehr berechenbaren Zukunft ernst nehmen. Könnte man. Sollte man.

„Gemeindrang eilt, die Lücke (durch die hereinbrechenden Fluten gerissen) zu verschließen.“ Heißt es weiter im „Faust II“. Allgemeines Handeln wäre notwendig, eine Gemeinschaft, die über Standpunkt- und Parteigrenzen hinaus überindividuell denkt und handelt. Die die gewonnene Freiheit nicht nur als Gewährung von Chancen, sondern als Verpflichtung zu sozial gerechtem Handeln versteht. Das müsste die „Vision von einer künftigen Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ sein bzw. von deren Mitgliedern konstruktiv diskutiert werden.

Die regierende Politik in den unterschiedlichen, bürgerlichen Konstellationen hat aber keine grundlegenden Antworten auf die sozialen und öko-logischen Herausforderungen, begreift nicht, dass sie selbst ein Mitverursacher in den sich verschärfenden Verteilungskämpfen, weil Mitspieler im weltweiten Wohlstandswettlauf und Ressourcengier ist. Es ist paradox: Wir bekämpfen Probleme, die nachweislich durch eine kurzsichtige Strategie der „Faustischen Welt- und Natureroberung“ eingetreten sind.

Faktor „Mensch und Gemeinschaft“

Wie? Mit einem falschen oder mindestens problematischen Verständnis von Aufklärung. Mit Technik, Berechnungen, „innovativen Ideen“, mit „Zahlen und Figuren“ (Novalis) und nicht zuletzt soll und wird uns die „künstliche Intelligenz“ retten. Die herrschende und regierende Politik bildet Expert*innen-Gruppen, die Expertisen erstellen, die alles wieder ins Lot bringen werden. „Bei Corona hat’s doch auch funktioniert.“

Hört man beispielsweise den Ex-Gesundheitsminister Spahn resümieren. Natürlich mit dem Hinweis, dass man „Enttäuschungen“ hätte in Kauf nehmen müssen. Aber insgesamt – und von Korruptionsmarginalien abgesehen – funktionierte das Krisenmanagement des Sozialkonservatismus in unserem Land dennoch irgendwie gut.

Immer mit dem ersten Blick auf die Ökonomie, die Finanzierbarkeit von Maßnahmen, den Faktor „Mensch und Gemeinschaft“ irgendwie noch unterbringend, man klatschte sich von den Balkonen Mut zu. Der letzte schwache (und rückblickend gesehen ohne grundlegende Veränderungsperspektive) und anrührende Moment einer Gemeinschaft von Menschen, die sich über Klassen, Gruppen und soziale Stände hinweg solidarisch verhielten. 2020.

Nachhaltigkeit? Fehlanzeige. Die „Solidarbatterien“ waren schnell wieder leer. Aufklärung braucht an ihrer Seite einen Humanismus, also eine gehörige Portion „Sturm und Drang“, Idealismus, nicht nur Geistes-, sondern auch Herzens-Bildung. Einen klaren ethisch-moralischen Kompass.

Oder wie es auf dem Grabstein von Immanuel Kant (1724–1804) in Königsberg zu lesen ist: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Ich selbst habe zu wenig ökonomischen Sachverstand, um die Potenzen und Chancen von Wissenschaft und Forschung in neoliberalen Zeiten ab- bzw. einzuschätzen. Vielleicht ist es ja demnächst wirklich möglich, Benzin aus Luftsauerstoff herzustellen, wie Christian Lindner 2019 auf unserer Schulaulabühne optimistisch verkündete.

Das Ãœbliche: Der Markt werde es schon regeln. Irgendwie – irgendwo – irgendwann. Nur komischerweise sind wir immer im „Reaktionsmodus“, versuchen verzweifelt beinahe dauerhaft Krisen zu bewältigen, als würden diese wie ein Gottesurteil über uns herfallen und nicht ihre Ursachen im bestehenden „Wachstumskapitalismus“ haben.

„Man sieht nur mit dem Herzen gut“

Dabei steht es doch beim Super-Aufklärer Kant geschrieben. Ein „Bestirnter Himmel“ und kein Gott, kein Herrscher, nur ein unendliches Universum steht dem vernunftbegabten (?) Menschen als Forschungs- und Lebensquelle zur Verfügung.

Eine Welt liegt vor uns, die es zu erkunden und zu nutzen gilt. Nur eben mit dem „moralischen Gesetz in mir“ kann es gutgehen, mit dem Korrektiv einer Kollektivmoral, wahrer Freiheit, die nicht verordnet werden kann, sondern erworben werden muss.

Aber die Politik hat die Aufgabe, die Rahmen für die „moralischen Gesetze“ zu skizzieren, die Bedingungen für eine Kollektivmoral zu schaffen. Rahmenbedingungen, die mehrheitsfähig sind, konstruktiv-aufbauend, mit einer Vorbildrolle ausgefüllt, von der Gemeinschaft getragen.

Davon ist weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Alter Wein wird in alte Schläuche gegossen, Bildungsmonitore der wirtschaftsnahen „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ messen die Tauglichkeit des föderal organisierten Arbeitsnachwuchses nach ökonomischen Parametern, enge Zeitkorridore in den Unterrichtsabläufen lassen keinen Platz für ehrgeizige, abstrakte Bildungsansprüche. Ambitioniert „4k-Modell“ genannt.

„Kreativität – kritisches Denken – Kommunikation – Kooperation“. Ja gut, dann aber bitte schnell, irgendwie verwert- und messbar. Die sächsische Schulabbrecherquote kann immer noch nicht überzeugen, ist zu hoch. Und die Eigenfinanzierung (im Uni-Sprech „Drittmitteleinwerbung“ genannt) nicht zu vergessen. Ist das Zukunftsorientierung? Motivation für künftiges Lernen mit allen Sinnen? Nachhaltige Bildung?

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Heißt es im „Kleinen Prinzen“. Und der „Homo sapiens“ ist ein vernunftbegabtes Wesen. Eines, das die Fähigkeit zur Weisheit („Sapientia“ = Weisheit) besitzt. Ob da die „künstliche Intelligenz“ mithalten kann? Vielleicht entwickelt sie ja eine Überlebensstrategie, die „Vision einer künftigen Gesellschaft“ für uns.

Eine der Toleranz und Mitmenschlichkeit, der Genügsamkeit und des klugen Rückzugs und freiwilligen Rückbaus eines Wohlstandes, der den internationalen Kampf um die Abbauressourcen beendet und gerecht zu verteilen beginnt. Zweifel sind sicher angebracht.

Dabei braucht es dringend eine wirkliche Vision für die Zukunft. Eine, die uns die regierenden Politiker und Politikerinnen in- und außerhalb unseres Landes bislang schuldig geblieben sind. In allen Parteien. In Regierung und Opposition. In Ausschüssen, Sitzungen und medialen Erklärungen und Interpretationen.

Mit den herkömmlichen Methoden der Krisenbewältigung und Besserungsversprechen ist nichts mehr vertrauensbildend getan. Dafür scheint nicht nur der Sommer, sondern die Zeit überhaupt vorbei zu sein. Es ist Zeit für eine Wende. Eine wirkliche Zeiten-Wende.

Hier geht’s zum Teil 1: Bertolts Bruch und Friedrichs Fiasko: Alles auf Anfang oder Lob des Lernens? (Teil 1)

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar