Der November – er folgt dem goldenen Herbst – und dann sind sie da. Die Wochen der Bewährung. Der bürgerlichen Gesellschaft wohlgemerkt; die holt sich die Kraft in den noch warmen Stuben und vielleicht vollen Kühlschränken. Sie sollte umso unruhiger werden, kreativ-kritisch angesichts kälter werdender Tage und frostigerem Gesellschaftsklima.

Wieder einmal Zeit, den Vormärzrevolutionär und „November-Dichter“ Heinrich Heine hervorzuholen und sein beginnendes „Wintermärchen“ zu durchdenken. Im sächsischen Lehrplan spielt der Rheinländer eher eine nachgeordnete Rolle, wird den 14-jährigen Schüler/-innen recht frühzeitig um die Ohren gehauen, später nimmt er dann auf der „Reservebank“ der Oberstufe seinen fakultativen Platz ein. Als literarischer und politischer „Hinterbänkler“.

Im traurigen Monat November war’s,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist’ ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zu Muthe;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz Recht angenehm verblute.

In Heines wunderbar harmonische Poesie mischen sich klammes Gefühl und ungewisse Erwartung. Schwierigkeiten, ja scheinbar unlösbare Probleme, die notwendig, möglicherweise existenzieller Art sind, werden auftauchen. Die Bereitschaft, gesellschaftlich mehr zu tun als im Moment muss wachsen, mit einem immer klarer werdenden Verstand, der aber dazu das „weiche Herz“ braucht – so wie es die junge Sophie Scholl ihrer Zellengefährtin kurz vor ihrer Hinrichtung erklärt.

Jede/r spürt, wie eingesponnen in globale Konflikte, Interessen, die sich scheinbar unserem Einfluss entziehen und wir täglich zwischen instrumenteller und wahrhaft moralischer politischer Ideologie unterscheiden müssen. Wobei die eine wie die andere Seite immer lauter – mit dem Verlust an wirklicher Souveränität.

Mit dem fehlenden „Verstand des Herzens“, dass in der humanistisch orientierten Demokratie zuerst Freiheiten des friedlichen Protests, erlaubter Mitbestimmung und Existenzsicherung gewährt werden müssen. Nicht nur als fernes Ideal, sondern als „Qualitätsmerkmal“ bürgerlicher Aufklärung. (Wenn sie nicht nur ein historisches Phänomen bleiben soll.)

Es ist wieder einmal ein Wettbewerb der „Systementwürfe“ in Gang gesetzt worden. Nein, falsch, er war immer da, die Konturen verwischten bei so manchem wie mir in der Gewohnheit von Wohlstand bei gleichzeitig vorhandenem Ressourcenringen und dem Kampf um Märkte und Macht.

Autokratie oder Diktatur gegen Demokratie. Unsere Hoffnung besteht zu Recht in der Verteidigung von Freiheit und Wohlstand. Diese Geschichte hat nur mehrere, unangenehme „Haken“…

Diese relative materielle Wohlstands-Sicherheit – dessen flächendeckendes Sozialnetz heutzutage mehr und mehr Risse aufweist – beruht auf der Unsicherheit und als selbstverständlich begriffener Ungerechtigkeit gegenüber den vielen anderen globalen Mitbewohner/-innen.

Des Weiteren verkennen wir den Zusammenhang zwischen Freiheit und Ökonomie. Letztere gewährt vor allem die konsumistische, mithin eine sogenannte „Diversity-Freiheit“, die bisweilen mit sozialer Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen verwechselt wird und uns als linksliberales Feigenblatt durch den Neoliberalismus untergejubelt wird.

Und nicht zuletzt ist der moderne Marktkapitalismus offensichtlich nicht in der Lage, zwischen Maximalprofit und Menschheitsinteressen zu vermitteln, es werden keine Abkommen eingehalten, Rechtsvereinbarungen gebrochen. So ganz „nebenbei“ auch das Völkerrecht (Und das nicht nur singulär durch Russlands Putin.)

Warum? Weil es den nationalen Kapitalinteressen, die ebenfalls internationale Wirkung haben – wie auch sonst zu verstehen – widerspricht. Und „… wenn dann eine Idee mit einem Interesse zusammenstößt, ist es allemal die Idee, welche sich blamiert“, stellte bereits der Marxist Engels fest. Kulturpessimistischer geht’s kaum, blickt man auf die Gegenwart, wird einem angesichts des bevorstehenden Winters kaum wohler ums Herz.

Und doch gibt es Hoffnung. Die besteht nach dem ehemaligen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel nicht in der „Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern in der Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Und das betrifft vor allem die unermüdliche, nie enden wollende Aufgabe, etwas für Wahrheit (ja, ich weiß, da hat nach dem „Diversity-Verständnis“ jede/r seine eigene) und Mit-Menschlichkeit zu tun. Da muss man junge Menschen nicht lange überzeugen, Stolpersteine für verfolgte jüdische Mitbürger:innen zu putzen, Kerzen und Blumen an den Stellen abzulegen, die einmal ihr Zuhause waren und welches sie nie wiedersehen sollten.

Aber Mit-Menschlichkeit darf nie teilbar sein, muss sich in der Vergangenheitsbetrachtung und Gegenwartssicht immer dem Versuch der Wahrheit verpflichtet fühlen und sollte nicht den regierungsamtlichen (und transatlantisch) geprägten Politikstrategien folgen.

Krieg, Verfolgung von Menschen und Umweltzerstörung sind so lange tragischer Bestandteil unseres Lebens – und nicht nur im „traurigen Monat November“ – bis sich die Völker ihrer wirklichen, ja demokratischen Macht bewusst sind und sich nicht von medial raffinierten Macht-Managern ins selektiv moralisierte Kriegsgeschehen und billigend in Kauf genommene Atomkriegsgefahren „hineinmoderieren“ lassen.

Stolz bin ich auf die Menschen, die Auswege aus der multiplen Krise von Gesellschaft und Planeten suchen, „global denken und lokal (zu) handeln“ versuchen, erkennen, dass Regierungen und amtierende Politik IMMER kritisch zu betrachten und zu hinterfragen sind und man dann stutzig werden muss, wenn Ungehörte keine Stimme haben und ihr Los nicht tagtäglich rauf- und runtergesendet wird.

Dann ist man auch bei den Menschen, deren Andenken wir am 9. November ehren – einem derart schicksalbeladenen Datum der deutschen Geschichte.

Menschen, die Verfolgung und Tod aufgrund staatlicher Willkür ereilten. Dieses Gedenken – eine Wiederholung am Ende sei an dieser Stelle erlaubt – wird umso stolzer und glaubhafter – wenn es wachgehalten wird gegenüber den vielen Orten der Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde auf dieser Welt. Gegen die Interessen der Mächtigen.

Schwer machbar, ich weiß, „ …ich meinte nicht anders, als ob das Herz Recht angenehm verblute.“

 

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