Die Effekte des verbesserten Abiturschnitts in Sachsen sind an sächsischen Universitäten und Hochschulen noch nicht angekommen. Die Fähigkeiten in den Fächern Physik und Mathe stehen besonders in der Kritik. Dem Kultusministerium ist dies bekannt. Die Kritik sei auch nicht neu und eine Studie aus dem Jahr 2016 widerspricht sogar den subjektiven Eindrücken.

Professorin Judith Brinkschulte leitet seit zwei Jahren das Propädeutikum für Studienanfänger im Studiengang Mathematik und hat in diesen vier Semestern einen kleinen Eindruck bekommen, was den Abiturienten beim Übergang von Schule zu Uni fehlt. „Ich spreche den Erstis nicht generell die Studierfähigkeit ab, es gibt vielmehr größere Unterschiede, eine zunehmende Heterogenität“, so Brinkschulte.

Kommunikationsbereit seien die neuen Studierenden, „aber die Unterschiede bei Rechenfertigkeiten sind enorm bei Lehramtsstudenten, Physikstudenten und Diplom-Mathe-Studenten. Viele hatten nicht mal einen Leistungskurs. Dabei geht es um elementare Rechnungen: Potenzgesetze, Bruchrechnung …“

Auch dass der Taschenrechner in der Schule eine große Rolle spielt, sei für ein späteres Mathestudium nicht sonderlich günstig. „Schüler haben in der Schule viel mit Taschenrechner gearbeitet, sie rechnen nicht mehr viel konkret. Beim Mathematikstudium geht es auch um abstrakte Abschätzungen, wenn man bei den konkreten Rechnungen Probleme hat, wird es sehr schwer. Es wird vieles nicht mehr systematisch unterrichtet, nur ansatzweise, aber dann ist es nicht tief genug verankert.“

An der TU Freiberg war man sich gar nicht bewusst, dass der Abiturdurchschnitt in den vergangenen Jahren gestiegen ist. „Auf Ihre Anregung hin haben wir die Abiturnoten unserer Studienanfängerinnen und Studienanfänger der grundständigen Studiengänge überprüft. Tatsächlich hat sich die durchschnittliche Abiturnote unserer Studierenden im ersten Fachsemester der grundständigen Studiengänge – Bachelor und Diplom – seit 2015 kontinuierlich verbessert, insgesamt um einen Wert von 0,5“, berichtet die Prorektorin der TU Bergakademie Freiberg, Frau Prof. Dr. Swanhild Bernstein.

Aber: „In den Grundlagenfächern, bei uns als Technische Universität Mathematik, Chemie und Physik, sehen wir zwischen den Jahrgängen keine signifikanten Veränderungen der Fähigkeiten, nur die natürlichen Schwankungen. Bestimme Themenbereiche verstehen die Studierenden mal besser und mal schlechter.“

Wie auch Professorin Brinkschulte aus Leipzig, sieht Bernstein Verbesserungsbedarf in den sogenannten MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft und Technik).

„Ich persönlich arbeite seit vielen Jahren am Facharbeitskreis ‚Mathematik/Physik + E-Learning‘ mit. Sachsenweit wird hierfür für Mathematik eine Lernstandserhebung durchgeführt. Es gibt seit Jahren keine signifikanten Änderungen des Leistungsstandes. Leider interessieren sich immer weniger Schüler für MINT-Fächer, was ich sehr schade finde. Die Herausforderungen, die der Klimawandel oder der internationale Wettbewerb an uns stellt, können vor allem durch naturwissenschaftlich-technische Entwicklungen gemeistert werden.“

So bleibt es eine wichtige Aufgabe, „die Studierenden und Schüler für die Lehrgebiete Mathematik, Physik und Chemie zu motivieren.“

Ihr Kollege Prorektor Professor Michael Kobel von der TU Dresden setzt sich ebenso für eine Verbesserung der Verknüpfung zwischen Schule und Universität ein. „Wir an der Universität kennen die Lehrpläne an den Schulen nicht genau, weswegen wir auch nicht wissen, was Schüler schon können oder noch nicht können. So entstehen unterschiedliche Erwartungshaltungen.“

Titelblatt der November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108
Titelblatt der November-Ausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 108. Foto: LZ

Erschwert wird dies dadurch, dass Lehrende an den Universitäten die Abschlüsse der Studierenden nicht kennen (dürfen) und auch nicht wissen, ob diese aus Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg kommen. Auch das trägt zum schwierigen Übergang von Schule zur Universität bei. Die Universitäten bieten zur Unterstützung sogenannte Vorkurse an, in denen Erstsemester ihren eigenen Wissensstand überprüfen und verbessern können, um so bestmöglich auf die Aufgaben der Universität vorbereitet zu sein.

Allerdings verweist Kobel darauf, dass es nur eine dünne Datenbasis gibt, die den subjektiven Eindruck von der schlechten Verknüpfung von Schule und Universität und/oder der schlechten Vorbereitung auf die Anforderungen der Universität verifizieren.

Konkret gibt es eine Studie aus dem Jahr 2016, die die Fähigkeiten von 2.322 Studienanfängerinnen und -anfänger der Physik in Mathematik mit denen von 2.715 aus dem Jahr 1978 verglichen hat. Dafür wurde der bundesweite Studieneingangstest des Jahres 1978 noch einmal verwendet.

Im Fazit der Studie heißt es: „Es wurde keine Evidenz dafür gefunden, dass die Studierenden 2013 pauschal niedrigere mathematische Kenntnisse bzw. Fähigkeiten besaßen als die Studierenden 1978. Stattdessen zeigte sich, dass die Veränderungen einer differenzierteren Betrachtung bedürfen. Welche der beiden Stichproben besser abschneidet, ist abhängig davon, auf Basis welcher Items der Vergleich durchgeführt wird.“

Studierende aus dem Jahr 1978 beherrschten also andere Fähigkeiten besser als jene aus dem 2013 und andersherum. Der Eindruck aus, wie es in der Studie heißt, „anekdotischen Berichten Lehrender“ hat sich nicht oder nur teilweise bestätigt.

Dem sächsischen Kultusministerium ist die subjektive Unzufriedenheit über die Studierfähigkeit von sächsischen Schülern bekannt. „Es gibt da viele Beispiele und Zitate auch aus der Vergangenheit. Zum anderen muss man diese Kritiken der Universitäten etwas genauer analysieren. Hier spielen teilweise sogenannte Soft-Skills wie Leistungsmotivation, Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen eine Rolle sowie teilweise unterschiedliche Generationsauffassungen bei Lehrenden und Studierenden.“

Heutige Studierende haben ihre Kompetenzen anders ausgeprägt als die Generationen zuvor. „Im Zeitalter digitaler Medien gibt es zum Beispiel andere Lesegewohnheiten und einen veränderten Zugang zu Informationen. An den Hochschulen treten diese Themen dann naturgemäß etwas zeitversetzt auf.“

Weil es aber immer wieder konkret um die mathematischen Fähigkeiten der Studienanfänger geht, lädt das Kultusministerium im Jahr 2023 ein. „Fachberater für Mathematik und Hochschullehrer haben die Zeichen der Zeit erkannt. Mit Unterstützung des Kultusministeriums werden wir im Januar 2023 eine gemeinsame Fachtagung zum ‚Übergang Schule-Hochschule Mathematik‘ in Dresden durchführen. Ziel ist es, dauerhafte Kooperationsstrukturen zu schaffen, um den Übergang ins Studium zu optimieren.“

Es gibt eine zunehmende Heterogenität bei sächsischen Erstsemestern oder doch nicht?“, erschien erstmals am 25. November 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 108 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Wenn sich die durchschnittliche Abi-Note um 0.5 (!) verbessert hat, die Fähigkeiten aber gleich geblieben sind, so zeugt das von einer niedrigeren Wissens- und Fähigkeitsschwelle, welche zu Prüfungen abgefragt wird.

Ein bisschen erinnert mich die Benotung auch an Konfektionsgrößen.
Damit der Kunde ein gutes Gewissen hat, bleiben die genormten Zahlen konstant, jedoch sind die tatsächlichen Weiten der Kleidungsstücke wesentlich größer…

Schöner Gruß von Pippi Langstrumpf.

Schreiben Sie einen Kommentar