Sehr geehrter Herr Bojanowski, was Sie da in ihrem Text "Umweltschutz: Kommen Sie mir bloß nicht mit Nachhaltigkeit" in der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" und auf Spiegel Online schrieben, ist ein großer Quatsch und keine Analyse. Keine wissenschaftliche und keine journalistische. Obwohl sie eigentlich Wissenschaftler sind. Aber auch dann wüssten Sie, dass eine Analyse tiefer geht als die Sammlung von Phänomenen.

Keine Frage: Der Begriff Nachhaltigkeit wird missbraucht. Von Hinz und Kunz, von Konzernen, die sich grün- und weißwaschen, von Politikern, die damit ihre Untätigkeit kaschieren, von Lobbygruppen, die das Gegenteil wollen. Und darin geht es der Nachhaltigkeit genauso wie den Kürzeln “öko” und “bio”. Sie haben richtig erkannt: Konsumenten und Leser wollen das. Sie wünschen sich Berichterstattung zum Thema, auch wenn sie oft mit dem Begriff Nachhaltigkeit nichts anfangen können. Sie verbinden – wie so viele Journalisten – etwas Diffuses damit, etwas Großes, von dem man annimmt, die “Experten” wüssten schon, was es ist. Auch das Gefühl, dass es wichtig ist für das Überleben der Menschheit. Sogar ein bisschen mehr.

Sie erleben – seit sie Medien nutzen – wie kurzatmig alles ist: unsere Wirtschaft genauso wie unsere Politik und unsere Berichterstattung. Wir Journalisten, wir Medienmacher sind Teil des Problems. Denn Nachhaltigkeit lässt sich meist schlechter erklären als zum Beispiel “Verschwendung von Steuergeldern”, Korruption oder die Folgen einer industrialisierten Landwirtschaft. Aber da sind wir schon mittendrin.

Auch bei Ihrem sehr, sehr engen Verständnis von Nachhaltigkeit. “Befürworter des Wortes, das als sustainable development mittlerweile weltweit mehr Verwirrung als Nutzen stiftet, proklamieren zwar eine scheinbar eindeutige Definition: Nachhaltigkeit bedeute, etwas zu bewahren für künftige Generationen.”

Sie erwähnen nicht, wer die Formel so gebraucht. Dass die Vielfalt der diversen Eigen-Definitionen dazu führt, die Sache zu verwässern – auch das ist keine Frage. Und es ist oft genug Absicht. Es gibt genug Personen, die aus diesem Grundlanliegen gern etwas Gummiartiges, Nicht-Zwingendes machen möchten.

Aber es gibt eine klare Definition, auf die sich all jene, die den Begriff Nachhaltigkeit zur Grundlage wirtschaftlichen und politischen Handelns machen möchten, immer wieder beziehen: den Bericht der Brundtland-Kommission “Our Common Future” von 1989, der zur Grundlage der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 wurde.

Der wichtigste Teil der Definition lautet auf deutsch so: “Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können …”

Klingt so ähnlich wie das, was Sie sich da herausgelesen haben.

Ist aber deutlich mehr. Man bewahrt nicht nur irgendetwas für künftige Generationen. Hier geht es nicht um ein Museum oder einen Sparstrumpf.

Sondern hier geht es um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.

Das möchten viele Menschen tatsächlich, wissen aber meist nicht, wie sie es bekommen. Denn ihr Einfluss auf unseren modernen Produktionsprozesse ist nicht groß. Oft sind es erst Medienberichte, die ihnen erklären, dass eine billige Kleiderproduktion in Asien zu Billiglöhnen und mit geringen Umweltstandards alles andere ist als nachhaltig: Sie zerstört die natürlichen Ressourcen in Fernost, es werden gewaltige Mengen fossiler Energie verbraucht, nur um die gewaltigen Transportmengen abzusichern. Und haltbar sind die Kleidungsstücke in der Regel auch nicht allzu lange.

Es hängt, wenn man auch nur ein Thema aufgreift, immer ein ganzer Schwanz von Folgen dran. Nachhaltigkeit macht, wenn man sie als Arbeitsmuster im journalistischen Alltag anwendet, ein ganzes Netz von Abhängigkeiten sichtbar.

Tatsache ist: So gut wie nichts, was wir heute tun, ist wirklich nachhaltig.

Aber an dieser Stelle kneifen fast alle unsere Kollegen. Denn dann müssten sie – was sie meist nicht dürfen – die Tatsachen beim Namen nennen: die Konzerne, die ihre Profite daraus generieren, dass sie keine nachhaltigen Produkte produzieren, dass sie ihre Geräte immer schneller “moralisch” verschleißen lassen, dass sie Produkte herstellen, von denen sie wissen, dass sie Ökosysteme zerstören usw.

Es kann gut sein, dass diese Analysen (die dann wirklich welche wären) viele Kollegen schon überfordern würden. Von denen aus der Börsenberichterstattung schon ganz zu schweigen. Da muss man nur diverse Finanzderivate, Wetten auf Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise usw. benennen. Die Finanzkrise ist – man erwähnt es ja viel zu selten – das Ergebnis einer verantwortungslosen und nicht nachhaltigen Finanzwirtschaft. Hier werden die Ressourcen der künftigen Generationen mutwillig zerstört, verbrannt, vergeudet. Der egoistische Eigennutz regiert.

Das kurzfristige, am Ende egoistische Denken, das in der Nutzenmaximierung allein für sich und sein Unternehmen besteht, herrscht überall.

Es herrscht auch in den Medien. Weswegen sie sich allesamt selbst so schwer tun, Themen tatsächlich auf das Thema Nachhaltigkeit hin abzuklopfen. Ganz zu schweigen davon, dass 99 Prozent der heutigen Informationsschwemme alles Mögliche sind, nur keine nachhaltige Berichterstattung. Vom Zustand des deutschen Fernsehens brauchen wir an dieser Stelle gar nicht zu reden. Dort ist der Unwille, überhaupt einmal über den eigenen Sendeauftrag nachzudenken und was er eigentlich bedeuten würde, jeden Tag mehr als deutlich zu spüren.

Hören die Leser auf zu lesen, wenn man die Nachhaltigkeit von Projekten, Prozessen, politischen Entscheidungen hinterfragt?

Unsere Erfahrung ist: Das Gegenteil ist der Fall.Denn die Sache mit den “künftigen Generationen” (aus dem Zitat von oben) fängt immer hier und heute an. Das sind nicht irgendwelche fremden Nachkömmlinge, sondern unsere Kinder und Enkel. Die Zukunft ist jetzt. Und sie fängt damit an, dass die älteren Generationen den jüngeren Generationen die Ressourcen schmälern.

Ich erinnere an die zähe, nun schon länger als eine Generation dauernde Debatte um die frühkindliche Bildung. Mit unserem Schulsystem geht es weiter, das mit seinem Prinzip der frühzeitigen (sozialen) Auslese alles Mögliche ist, nur nicht nachhaltig. Bei den Infrastrukturen im Land geht es weiter. Wir sind jetzt da, wo die USA vor 20 Jahren schon waren: Wir haben Jahrzehnte lang Milliarden in den Bau von Autobahnen, Brücken, ICE-Schnellstrecken, Tunneln usw. investiert. Nur für die Instandhaltung fehlt das Geld. Ein Thema, bei dem eitle Politiker gern auf alles pfeifen – und zuallererst auf die Nachhaltigkeit.

Sie überlassen das Spiel, wenn Sie auf den Begriff Nachhaltigkeit verzichten, wieder einmal all jenen, denen kein Trug zu teuer ist, um Menschen über das, was sie tun, zu beschwindeln.

Sie scheinen einen gewissen Rochus auf die “Vertreter der Naturschutzbewegung” und Organisationen wie Greenpeace zu haben. Und dann argumentieren Sie so: “Oft waren es industrielle Eingriffe, die Dauerhaftigkeit ermöglichten. Erst Kalidünger stabilisierte landwirtschaftliche Erträge und ermöglichte ‘nachhaltiges Wirtschaften’.”

Und Sie sind mitten drin im Thema. Denn Einzelbeispiele für die Segnungen der modernen industriellen Entwicklung findet man allerorten. Es finden sich aber genauso viele – wenn nicht mehr – für das Gegenteil. Zum Thema Nachhaltigkeit gehört auch die Erkenntnis, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre umweltschädlichsten Industrien in den vergangenen 25 Jahren nicht umgerüstet oder nachhaltig gemacht hat – sie wurden ins Ausland verlagert und verursachen die Umweltschäden dort. Nachhaltigkeit ist ein globales Thema. Und überfordert auch deswegen viele Journalisten, die über die Grenze ihres Heimatlandes nicht hinausdenken können, die sich mit Waren- und Geldströmen nicht beschäftigen, weil dafür eine andere Abteilung zuständig ist. Die meistens aus Kostengründen schon eingespart wurde.

Und sie ist ein komplexes Thema. Der landläufige Journalismus hört bei der Beschreibung der Einzelfälle auf: schönes Kraftwerk, schöne Deichverlegung, schöne Graugans. – Nachhaltig wird die Berichterstattung aber erst, wenn sie die Einzelthemen einordnet – und komplexe Zusammenhänge zeigt. Auch bei so genannten “Ausgleichsmaßnahmen”, die Sie zitieren.

Sie zitieren einen Kollegen, der etwas Wichtiges gesagt hat: “Denn Nachhaltigkeit bedeutet, in Zusammenhängen zu denken.”

Das ist der journalistische Anspruch dabei, den Sie einfach vom Tisch wischen, bevor Sie Ihre Kapitulationsfahne in den Wind hängen: “Ich behaupte das Gegenteil: Der Begriff ‘Nachhaltigkeit’ verschleiert die komplexen Zusammenhänge in der Natur und die zwischen Umwelt und Gesellschaft. Er liefert keine Antwort, sondern wirft Fragen auf. Der Begriff ist schädlich. Überlassen wir ihn listigen Verkäufern.”

Dass der Begriff von einigen Leuten gern benutzt wird, Zusammenhänge zu verschleiern, wer wüsste es nicht.

Aber normalerweise werden Journalisten an so einer Stelle erst recht neugierig und nehmen den Weißwäscher etwas genauer unter die Lupe. So wie die Verbraucherzentrale regelmäßig die Lügen der Werbeindustrie entlarvt.

Aber dass ein Begriff missbraucht wird, darf eigentlich keinen Journalisten daran hindern, komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen. Nicht nur die “in der Natur und die zwischen Umwelt und Gesellschaft”. Da vereinfachen Sie schon wieder. Viel komplexer sind die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Medien und Politik. Und die Wahrheit ist: Politik, Behörden und Unternehmen, die man tatsächlich beim Thema Nachhaltigkeit beim Wort nimmt und deren Tun man hinterfragt, reagieren in der Regel sehr gereizt – gern auch mit Anwalt – wenn die Fragen zu deutlich werden.

Denn was mit dem Wort Nachhaltigkeit meist kaschiert wird, ist der ganz klassische Eigennutz, der sich so gern als Gemeinnutz darstellt. Und die Leute, die das tun, reagieren sehr allergisch, wenn man sie beim Lügen, Täuschen und Tricksen erwischt.

So weit hätte ihre “Analyse” wenigstens gehen müssen, warum das Wort Nachhaltigkeit heute so umfassend missbraucht wird.

Wir in Sachsen kennen dafür eine schöne kurze Antwort. Wir hängen nicht die Kapitulationsfahne raus, sondern wir sagen wie unsere Lene Voigt: “Nu grade!”

Der Artikel “Umweltschutz: Kommen Sie mir bloß nicht mit Nachhaltigkeit” von Axel Bojanowski erschien in der Zeitschrift “Aus Politik und Zeitgeschichte”. Online veröffentlicht hat ihn der “Spiegel” hier: www.spiegel.de/wissenschaft/natur/nachhaltigkeit-bojanowski-ueber-bedeutung-des-begriffs-im-umweltschutz-a-982513.html

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