LeserclubUnd das war erst der Auftakt für die Verwicklungen, die das kleine Städtchen L. bald noch viel tiefer in Verwirrung stürzen sollten. Denn wie man mit Enthüllungen umgeht in der schmuck gewordenen westlichen Welt, das hatten alle, die auch nur ein bisschen Teil haben konnten an diesem hübschen Aufputschmittel Macht, längst gelernt.

Man sah sie mit ihren übermotorisierten Automobilen durch die gut asphaltierten Straßen fahren. Fahrzeugen, die man in den notdürftig geflickten Seitenstraßen niemals zu sehen bekäme. An diesem Wochenende sogar, obwohl sie sich wochenends selten in den Straßen der Stadt verfingen. Etwas schien sie in Unruhe versetzt zu haben.

Manchmal standen die noblen Karossen in Trauben vor der einen Adresse, wenig später an einer anderen. Und gelangweilte Chauffeure pflückten mit weißen Handschuhen die Staubkörner vom glänzenden Lack. „Issn hier los“, durfte wohl der eine oder auch der andere fragen, der mit bauchspannendem T-Shirt vorüberging und sich wunderte.

Dürfen darf jeder.

Aber markante Männer in frisch gebügelten Anzügen sorgten mit beachtlicher Präsenz dafür, dass sie ganz schnell wieder mit Fragen aufhörten und lieber die Straßenseite wechselten.

Das muss auch die Zeit gewesen sein, zu der zwei reich besternte Polizisten einander in einem völlig verqualmten Büro gegenübersaßen.

„Meinst du, der Alte geht damit zu diesen Schreiberlingen?“

„War er schon.“

„Das heißt, am Montag steht das groß und breit in der Zeitung, dass ihr verdammten Trampeltiere …“

„Glaub ich nicht.“

Vielleicht durfte man sich hier zwei alt gewordene sture Männer vorstellen, die ihre besternten Uniformjacken trugen wie andere Leute ihre Schusswesten, einander abschätzend, mit blassen blauen Äuglein. Wer in diesen tristen, grau-gelben Fluren sein Leben zubringen musste, der war zwar froh über den allseits gut nach Schweiß riechenden Korpsgeist, der einem dann und wann auch die heile Haut rettete.

Aber wenn es um Posten und kleine Schrittchen auf der verbeamteten Karriereleiter ging, dann war man sich mit bestem Gewissen spinnefeind und pflegte die guten alten Tugenden der Sicherheitsorgane in aller Welt. Dann brauchte man entweder den mäandernden Charakter einer durchaus anpassungsfähigen Persönlichkeit, wie sie der Ältere und etwas Gewichtigere der beiden Männer zu behaupten wusste, und das schon ziemlich lange. Oder – was zumindest der etwas Jüngere der beiden jetzt noch glaubte – eine gewisse schnittige Bereitschaft, die Grenzen, die er zu respektieren bereit war, selbst zu setzen.

Erst recht, wenn es um innige Freundschaften in Parteikreisen ging.

Was meist nur zu vermuten war. Das hätte zumindest Herr L. so formuliert, hätte ihm jemand ein schönes, mehrfach kopiertes Wortdokument dieses Gesprächs zugespielt. Was natürlich nicht geschah. Auch wenn Herr L. natürlich die Hauptperson in diesem Gespräch war, in dem die beiden schmallippigen Herren austesteten, was sie einander zu sagen und zu fragen trauten. Denn noch galt in diesem unseren Ländchen das ungeschriebene Gesetz: Was ich nicht weiß, kann mir auch kein Richter aus den Rippen leiern.

Das Ländchen verfügte, wie wir alle wissen, über die verschwiegendsten und vergesslichsten Beamten der Welt. Eine ganz besondere Spezialität, möchte man meinen. So rettet man zumindest Loyalitäten, wenn auch sehr labile. Eine Hand wäscht die andere – zärtlich. Mit festem Griff. Und Blick in die Augen. Zeigt der andere eine Schwäche?

Zeigte der Mehrbesternte einen Anflug an Unsicherheit, als ihm die Vorgänge beim nicht ganz so heimlichen Besuch in der Wohnung des Alten erläutert wurden, möglichst vage, sodass sich der Vorgesetze nur in der Phantasie zusammenreimen könnte, wie vier in Schwarz gekleidete Männer, denen man den Polizistengang selbst von weitem ansah, Zutritt zur Wohnung des pensionierten Kommissars verschafften, ein bisschen stöberten und die Dinge ein wenig verrückten. Und wo nur um eine umgestoßene Teetasse im Flur kurzzeitig so etwas Ähnliches wie ein Zwiegespräch ohne Worte stattfand, dessen Schluss dann lautete: Lass liegen den Scheiß.

Pause.

Sonst merkt’s der alte Narr nicht, dass wir da waren.

Und er sollte es ja merken. Auf jetzt noch höfliche Weise daran erinnert werden, dass man seine Kumpel nicht verriet. Und dass man alte Fälle ruhen ließ, wenn einem ein vorgesetzter Amtswalter signalisierte, dass dieser Fall als abgeschlossen zu gelten habe. Bis in alle Ewigkeit.

Und der empörte Widerspruch eines Schnüfflers, der keine ungelösten Fälle hinterlassen wollte, wochenlang an beredtem Schweigen scheiterte. Bis der Kram wirklich wohlverwahrt in der Asservatenkammer lag und fortan wachsame Augen darauf achteten, dass nichts davon wieder zurückfand in das Getriebe der romantischen Polizeiarbeit.

„Und was hat der Alte bei dem Schreiberling gewollt?“

„Ich schätze mal …“

„Gerade das weißt du nicht?“

„Ich sag’s mal so: Niemand wird uns unterstellen wollen, wir würden den Alten wegen so einer Lappalie, sagen wir mal, ab und zu beschatten.“

„Ach nein? Und wer schreibt die ganzen Überstunden?“

„Das ist ein ganz anderer Fall. Ich wiederhole: Der Alte ist nicht unser Beobachtungsobjekt.“

„Und wer sonst?“

Wollen wir sie so sitzen lassen, die beiden vierschrötigen Männer, die nun auch noch einen so schönen Wochenendtag dazu benutzten, an einem von Ascheflocken übersäten Schreibtisch ihre kleinen Machtspielchen zu spielen?

Wohl wissend, dass nachher ein interessierter Mitbürger würde wissen wollen, ob man nun am Montag in der Zeitung diese ganz speziell unleidliche Geschichte zu lesen bekommen würde. Wenn es nach einem gewissen Herrn L. gegangen wäre, dann bestimmt. Er hatte derzeit so eine Lust, öffentlich auch mal ein bisschen dreckige Wäsche zu waschen. Nur wusste er nichts davon und würde auch von dem Gespräch der beiden vierschrötigen Polizisten nur indirekt erfahren. Über sieben Ecken ungefähr.

Sodass er sich bestenfalls zusammenreimen konnte, dass es auch um ihn ging. Und dass der unauffällige auffällige Wagen mit dem Hauptstadtkennzeichen eben nicht zu Igors oder Iwans oder wessen Truppe auch immer gehörte, sondern dass die beiden unauffälligen Auffälligen darin deshalb so amtlich guckten, weil das ihr beruflicher Gesichtsausdruck war: So tun, als wäre man gar nicht da und den Passanten trotzdem das Gefühl zu geben, dass es besser war, lieber schnell ganz woanders zu sein und nichts gemerkt zu haben. Der Gesichtausdruck gehörte zum Standardrepertoire.

Und der ebenso leere Ausdruck, wenn ein nichtvorgesetzter Vorgesetzter mal fragen sollte, ebenso. Man hatte ja gar nicht mitbekommen, dass man dort gewesen war. Wie denn? Nein, da half auch das emsigste Kramen in der Erinnerung nichts.

Niemand wäre niemals nirgendwo gewesen.

Und so sah auch Herr L. sie nicht, als er nach einem am Ende doch etwas verkürzten Schlaf noch wochenendsmüde auf die Straße torkelte, um vom Bäcker frische Brötchen zu holen.

Was eifrigst notiert wurde, genauso wie seine fahrlässige Bekleidung, sein Überqueren der Straße im augenfälligen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung …

„Ob ich mir den Kerl mal vornehme?“

„Nein.“

Der, der in diesem unauffälligen Auto das Sagen hatte, brauchte nicht viele Worte, um seinem kampffreudigen Kollegen zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Der murrte und parierte, wie sich das gehörte. Hätte er nicht gemurrt, wäre auch das vermerkt worden. So wie Herr L.s Gespräch mit einer aufgeregten Hundebesitzerin („Mischlingsrüde, braun-weiß gefleckt, nicht angeleint“), zu deren ausgreifenden Erklärungen der Spätaufgestandene nur immer wieder müde nickte, bis er sich brav abführen ließ, bis zur Straßenecke, wo ihm die Frau etwas an der Hauswand zeigte, was dort gestern Abend noch nicht gehangen hatte.

Und was die beiden aufmerksamen Beobachter im Auto auch nicht beachtet hatten, als sie hier zur Wachablösung eintrudelten. Wer achtet schon auf all die Schmierereien an den Wänden? All den Unfug, den die renitenten Bewohner aus dem gewissen staatsgefährdenden Stadtteil immer wieder an die Wände klebten?

Nur dass an diesem Tag mehrere solcher Plakate auftauchen. Und nur wer nachtschwärmend noch munter gewesen war, hatte die huschenden Gestalten mit den Motorrollern gesehen, die durch die Straßen gefahren waren und überall diese Plakate angeklebt hatten.

Hatte L. gestern Abend noch etwas gemerkt?

Nein. Dazu fühlte er sich längst zu malade und reif für ein Schäferstündchen, in dem er einfach mal wieder Schaf sein durfte.

Vielleicht hatte das Plakat schon dagehangen, als er seiner heimatlichen Haustür entgegengeschlurft war, in den Augenwinkeln nur ein unbeleuchtetes Auto. Ein unbeleuchtetes Auto? Ein unbeleuchtetes Auto. Ach so.

„Glaubst du, er hat unsere Männer im Auto gesehen?“

„Warum sollte er? Die sieht keiner.“

Flog jetzt ein Lächeln um die schmalen Lippen eines der beiden Männer, die an diesem Wochenendmorgen nicht voneinander lassen konnten?

„Was gedenkst du zu tun?“

„Vorerst nichts. Mir sind die Hände gebunden, wie du weißt.“

Ein schmales Lächeln. Schon wieder?

„Meinst du denn nicht, dass er langsam zu viel weiß?“

„Zu viel wissen? Du hast zu viele Bücher gelesen.“

„Ist nicht gerade mein Hobby, wie du weißt.“

„Ach ja? Woher sollte ich das wissen?“

Zwei blassblaue Paare treuherziger Augen, die sich noch einen Moment lang musterten, bis einer von beiden einsah, dass das Stelldichein beendet war und er jetzt wieder nach Hause fahren konnte, um seine Goldfische zu füttern. Während sich anderorts ein vierschrötiger Bursche in Schwarz aus dem Auto wälzte, um das Plakat zu inspizieren, das eben noch das aufgeregte Frauchen so interessiert hatte. Es zeigte eine attraktive Frau mit feuerroten Haaren in einem Meer von Flammen. Und nur die durchaus rätselhafte Frage: „Bist du bereit?“

Da hatte die Stadt schon zu tuscheln begonnen.

Nur Herr L. interessierte das erst einmal gar nicht. Es gibt Tage, da möchte auch er nur ein Mensch sein. War er denn bereit?

Er nahm lieber noch ein paar Hörnchen mehr mit. Vergaß das Wechselgeld und machte einen großen Bogen um den muskulösen Mann in Schwarz, der immer noch breibeinig vor dem Plakat stand. In Schnürstiefeln, wie man sie auch bei der Polizei gern trug. Was einer wie L. im Kopf notiert und dann umblättert. Es war Wochenende. Und das Tuscheln hatte ja gerade erst begonnen.

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

Leipziger Zeitung Nr. 60: Wer etwas erreichen will, braucht Geduld und den Atem eines Marathonläufers

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