Zeitungen leben davon, dass sie den Blick schärfen, dass sie uns aufmerksam machen – und zwar ohne Geschrei, ohne das bunte Flackern im Internet und das dortige Gebuhle um Aufmerksamkeit. Zeitungen könnten der Ruhepol in einer zunehmend irrelaufenden Welt sein. Wenn sie denn nicht selbst auch noch anfingen, die Welt irre zu machen und jedes Problemchen zum Skandal aufbliesen, wie es die LVZ jüngst mit dem Brief einer empörten Mutter eines Schulkindes tat.

Würden sich alle Eltern aller Schulkinder mit ihren Sorgen aus dem Homeschooling so an die Zeitung wenden … nicht auszudenken. Sie tun es zum Glück nicht. Die meisten kümmern sich lieber um das, was gemacht werden kann. Manche lesen auch, was die Lehrer/-innen schicken und erklären.

Und manche werden auch das lesen, was Marko Hofmann in der neuen „Leipziger Zeitung“ schreibt über das, was er im Homeschooling erlebte – nämlich als Lehrer, der all das, was er sonst in einem klar geregelten Stundenplan mit den versammelten Kindern schafft (auch an Kommunikation, Zuhören, Erklären, Helfen …) nun am heimischen PC erledigen musste – mit jedem einzelnen Kind im E-Mail-Kontakt.

Er rechnet es den Wissbegierigen vor. Und natürlich ist sein Text in gewisser Weise auch ein fein gedimmter Antwortbrief an die empörte LVZ-Mutter. Und damit eigentlich auch an die LVZ, der so ziemlich egal ist, was wirklich im Homeschooling passierte und wie die Schulen und Lehrer/-innen damit umgingen und mit völlig ungenügenden Grundbedingungen improvisieren mussten, um überhaupt noch irgendeine Art Unterricht für die Kinder daheim hinzubekommen.

Was Marko Hofmann in seinem Beitrag „Drauf auf die Lehrer“ nicht schreibt, schreibe ich hier mal als Zwischenbilanz. Denn wenn dieses Corona-Homeschooling etwas gezeigt hat, dann das Scheitern von über zehn Jahren sogenannter „Digitalisierung“ unserer Schulen, vorangetrieben von selbstsüchtigen IT-Konzernen (und einer gewissen Kommanditgesellschaft Bertelsmann, über die Tom Rodig schreibt), denen völlig egal ist, ob Schulen auch mal im kompletten Lockdown funktionieren und Lehrer/-innen tatsächlich clevere Technik in den Händen haben, mit der sie Kindern selbst dann einen spannenden Unterricht verpassen können, wenn die wegen Quarantäne zu Hause sitzen.

Die ganze Digitalisierungsdebatte wurde – auch von unseren überschwänglichen Politikern und Kultusminister/-innen – immer nur als Loblied für die Interessen der Konzerne gesungen. Sie haben es nicht einmal geschafft, sich wirklich in die Rolle von Lehrer/-innen und Schüler/-innen zu versetzen.

Ergebnis? – Es war jetzt zu besichtigen. Praktisch keine einzige sächsische Schule hatte wirklich die nötige Technik, um einfach mal so von heute auf morgen ins Homeschooling zu wechseln. Und das, obwohl die Geräte, die Plattformen und die Software längst existieren. Sie wurden nur nicht angeschafft oder mussten von Lehrer/-innen noch schnell auf den letzten Drücker installiert werden, was freilich auch ihre begrenzte Nutzbarkeit sichtbar machte. Denn auch die Entwickler von Konferenzplattformen haben nicht wirklich an Homeschooling gedacht, eher an Vorlesungen an der Universität, weshalb es den Hochschulen deutlich leichter fiel, in die Online-Vorlesungen zu wechseln.

Sie sehen schon: Der Artikel bringt auf Gedanken …

Und es sind keine beruhigenden Gedanken.

Und eigentlich war auch die Mai-Ausgabe der LZ nicht unbedingt so gedacht, dass jetzt noch einmal alle Probleme eines Shutdowns an die Oberfläche drängen.

Aber das passiert ja nicht nur beim Thema Schule, wo sich zeigt, wie die Verantwortlichen mit richtig viel Geld in der Hand seit Jahren gründlich am Thema vorbeigedacht haben.

Denn dass (in Sachsen ein paar wenige) Leute mit seltsamen Forderungen und Behauptungen zu diversen Anti-Corona-Demos gehen, hat mit ganz ähnlichen kommunikativen Abgründen und Leerstellen zu tun. Womit sich in dieser Ausgabe gleich mehrere Beiträge beschäftigen, so wie Michael Freitag in „Die ausgefallene Revolution“, René Loch im Interview mit „Leipzig nimmt Platz“ („Gerade in Zeiten von Krisen wird Antisemitismus deutlich“) und David Gray gleich in zwei wichtigen Analysen – „Gelbschlipsklone in Mittelerde“ und „Killernews“.

Das Titelblatt der LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 79, Ausgabe Mai 2020. Foto: Screen LZ

Während Gray schön erklärt, was hinter der immer öfter zu hörenden Formel vom Libertarismus steckt, hinter dem sich allerlei Leute verstecken, die den Staat (der in der Corona-Krise als wichtiger Akteur wieder sichtbar wurde) zu beschneiden, zurechtzustutzen, zu „verschlanken“ (wie es in neoliberalen Konzepten gern heißt), also letztlich machtlos zu machen, machen die Reaktionen auf die Corona-Maßnahmen ja auch sichtbar, wie dissonant und chaotisch Kommunikation wird, wenn „social media“ auch noch dem wildesten Spekulieren enorme Resonanz verschaffen.

Pech für all jene, die in diesem Geschrei untergehen, weil das Wüten und Munkeln nicht ihre Sache ist. Davon erzählt Luise Mosigs Text „Branche ohne Lobby“ über die dramatischen Probleme der Soloselbstständigen aus Kunst und Kultur, für die mit den Allgemeinverfügungen tatsächlich fast alle Einnahmequellen und damit ihr gesamtes Lebens- und Geschäftsmodell weggebrochen sind.

Glücklich all jene, die diese acht Wochen tatsächlich mal zum Nachdenken über den Sinn des eigenen Daseins nutzen konnten. Denen auch das Bewusstwerden der menschlichen Endlichkeit kein Erschrecken war, sondern eine Rückkehr in ein reelleres, nicht mehr blind getriebenes Leben. Was Marko Hofmann nutzte, sich einfach mal auf seine Art mit dem Ende zu beschäftigen: In „120 Jahre Leichzeit“ hat er mal die Leipziger Rechtsmedizin besucht.

Da sehen dann auch die großen Probleme am Start ins Leben ganz anders aus, gar nicht mehr so dramatisch. Auch wenn Jens-Uwe Jopp in „Also was soll aus mir werden?“ sich mit den Sorgen einer 18-jährigen Abiturientin in Goethescher Diktion beschäftigt. Was für eine Erinnerung! Goethe in der Schule! Was für Quatsch einem da über das Faustische beigebracht wurde. Das in uns allen schlummert – und auch wieder nicht. Denn Faust falsch verstanden, führt genau in solche technokratischen Katastrophen, die jetzt vor uns stehen – die Zerstörung der Welt, bloß weil Ideen machbar sind und in den Schädeln der Machbarkeits-Apologeten keine Bremse ist, die ihnen Einhalt gebietet, Besinnung und Achtung vor ihrer Mit- und Umwelt.

(Was übrigens auch in allen libertären Bewegungen steckt: Der faustische Trotz, einfach Dinge machen und fordern zu können, weil man sie als verbriefte Freiheit versteht, nicht als Möglichkeit, die ein menschliches Verantwortungsdenken nicht ausschließt, sondern bedingt. Aber dazu müsste man Kant lesen …).

Und dass im Leseprogramm unserer Schulen wahrscheinlich ein Haufen falsch verstandener klassischer Literatur steht, darauf geht Konstanze Caysa in ihrer Kolumne „Die Liebe verzehrt alles“ ein. Da knöpft sie sich nämlich das Kleistsche (und damit romantische) Verständnis von Liebe vor, das ja bekanntlich nicht nur für die Amazonenkönigin Penthesilea tragisch endet, sondern drei Jahre nach „Penthesilea“ auch für Heinrich von Kleist in seinem bizarren Selbstmord.

Den man natürlich besser versteht, wenn man die übliche Deutschunterricht-Interpretation (die auch Wikipedia übernommen hat) vom Kopf auf die Füße stellt.

Wikipedia: „Penthesilea ist ein Drama von Heinrich von Kleist aus dem Jahre 1808. In ihm thematisiert er den Konflikt zwischen einem stark fühlenden Individuum und einer gesellschaftlichen Ordnung, die dessen natürlichem Empfinden in unnatürlicher Weise entgegensteht.“

Da ist die ganze falsch verstandene Romantik in nuce (über die sich Heinrich Heine nur noch mit bitterem Sarkasmus äußern konnte), die aber bis heute das ach so gefühlige Selbstverständnis des braven Biedermannes ausmacht: Er fühlt ja so mächtig gewaltig viel.

Wohin das wirklich führt, seziert Konstanze Caysa. Denn es hat etwas mit Allmachtsdenken und Maßlosigkeit und vor allem Besitzdenken tun. In ihm steckt schon das ganze rabiate „the winner takes it all“-Denken der neuen Gesellschaft, die sich zu Zeiten von Kleist und Heine schon übermächtig ankündigte. Motto: „Enrichissez-vous!

Dass Kleist sich in den Konventionen der braven bürgerlichen Welt seiner Zeit unwohl und eingesperrt fühlte – keine Frage. Er würde sich auch heute noch erschießen. Denn diese Biederkeit ist nie verschwunden. Sie ist auch noch mit derselben Maßlosigkeit verbunden, die heute alles frisst, was die Gier der Gierigen erweckt.

Mit Liebe hat das alles nichts zu tun. Auch das steckt ja im Penthesilea-Drama: Dass man das Geliebte zerstört, wenn man es völlig besitzen will. Absolute Liebe erstickt. Sie lässt dem Geliebten keinen Raum zum Sein und zum Leben und zum Werden. Die schöneren Antworten zur Liebe findet man deshalb eher nicht bei Kleist, sondern bei Erich Fried, so als Beispiel.

Aber gerade weil Konstanze Caysa die Kleistsche Variante durchspielt, wird deutlich, wie gegenwärtig diese egoistische Maßlosigkeit noch immer ist. Sie hat jetzt 200 Jahre regiert und die Menschen geformt und geprägt. Und eigentlich keinen Raum mehr gelassen für bedingungslose Liebe. Das Besitzdenken steckt in den Köpfen. Bis ins Intimste und Privateste hinein.

So können auch kleine Zeitungs-Kolumnen funktionieren. Die man in aller Ruhe liest – im Lieblingssessel oder am kaffeegedeckten Tisch auf dem Balkon, gern auch auf der Parkbank. Jedenfalls an Orten, wo man nicht funktionieren muss und die Gedanken ausklinken darf aus dem permanenten Alarmiertsein.

Dazu kommen dann natürlich noch viele große Geschichten in der Zeitung, die sich mal mit den Sorgen einer Langstreckenläuferin, mal mit den Träumen einer Tänzerin und den Träumen des Wendejahres 1990 beschäftigen. Und am Ende machen Tom Rodig mit seiner Reflektion über „Meinung und Wahrheit“ und Ulrike Gastmann mit ihrem Text „Anstehen für Anstand“ den Kreis des Nachdenkens über die wieder rumorende und aus allen Fesseln drängelnde Gegenwart rund.

Aus Ulrike Gastmanns Beitrag zitiert: „Seid nicht nur vorsichtig mit eurer Gesundheit, sondern auch mit euch und den Mitmenschen.“

Das ist quasi die Gegenposition zu Kleist. Die leisere, achtsamere. Aber dafür braucht man den Moment des Innehaltes. Den unbezahlbaren, der keinen Preis hat. Worüber bekanntlich die alten Griechen auch schon nachgedacht haben. Aber dafür steht halt nicht Penthesilea, sondern ein gewisser König Midas, der so närrisch war sich zu wünschen, dass sich alles, was er berührt, in Gold verwandle.

Eigentlich die modernste aller griechischen Sagen. Könnte man ja bei Gelegenheit wirklich drüber nachdenken.

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