Es hätte noch ein Happy End geben können. Aber vom bürgerschaftlichen Leipzig des Jahres 1990, als auch die Verwaltung sich für das Engagement der Bürger öffnete, ist nicht viel übrig geblieben. Die Machtgewichte haben sich verschoben. Aus der Kooperation ist eine Art Duldung geworden. Und das haben Leipziger Amtsträger die Engagierten aus den Vereinen auch immer öfter spüren lassen. Das Heft Nr. 12 der „Neuen Ufer“ ist ein Abschiedsheft geworden. Eins, das noch einmal von verschenkten Visionen erzählt.

Denn auf die Idee, die alten, in den 1950er und 1960er Jahren verrohrten Mühlgräben wieder zu öffnen, kam nicht die Verwaltung. Der Wunsch stammt direkt aus der Friedlichen Revolution in Leipzig. Am 4. Juni 1989 organisierten mehrere Basisgruppen der Leipziger Umweltbewegung den Pleißepilgerweg, der bei den damaligen Machthabern ganz schlecht ankam, weil er auf die zur Industriekloake verkommenen Leipziger Gewässer aufmerksam machte, gleichzeitig aber auch daran erinnerte, dass mit den verbuddelten Mühlgräben ein Stück städtischer Identität verschwunden war.

Zwar gründete sich der Verein Neue Ufer e. V. erst 1996, aber schon vorher waren die Akteure im engen Gespräch mit dem ersten Baudezernenten nach 1990, Niels Gormsen, der nicht nur ein gutes Gespür für die Wiedergewinnung eines fast verlorenen Stadtbildes hatte, sondern auch schnell begriff, wie wertvoll wieder ins Stadtbild zurückkehrende Gewässer waren.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Baudezernenten 1995 wurde er zu einem der engsten Mitstreiter des 1996 gegründeten Vereins, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, auch Finanzierungspartner für die nicht ganz billigen Mühlgrabenöffnungen zu finden.

Nur so am Rande: Niels Gormsen ist erst 2018 gestorben. Aber die Stadt hat es (anders als bei OBM Hinrich Lehmann-Grube) nicht fertiggebracht, dem Mann die Ehrenbürgerwürde anzutragen, obwohl schon in den 1990er Jahren klar war, wie sehr Gormsens Verständnis für die Wiedererweckung der historischen Stadtstrukturen Leipzig gutgetan und ihm seine architektonische Seele zurückgegeben hat.

Und er pflegte eben, was heutige Bürgermeister kaum noch fertigbringen, den Dialog mit den aktiven Bürgervereinen, hörte zu, begeisterte sich, wurde selbst zum aktiven Bürger.

Ein kleiner Nachruf auf Niels Gormsen würdigt den Verstorbenen im Heft. Vielleicht ein bisschen spät. Aber so oft hat der Neue Ufer e.V. auch keine solche aufwendigen Publikationen veröffentlicht.

In dieser hat Heinz-Jürgen Böhme nicht nur seine letztlich erbitterte Bilanz über die letztlich gescheiterte Zusammenarbeit mit der heutigen Stadtspitze geschildert. Er hat auch noch einmal alles Material zur heftigen Debatte um die Öffnung des Pleißemühlgrabens an der Hauptfeuerwache optisch und inhaltlich aufbereitet, sodass jeder, der will, die Ideen des Neue Ufer e. V. nachvollziehen kann, die dieser mit dem Kampf um die Öffnung des historischen Grabenverlaufs verband.

Und auch das, was die Stadt vorgelegt hat, wird diskutiert. Da Böhme weiß, was in den eigenen Projektideen alles einfloss und was im Stadtentwurf fehlt, bekommt man so eine Ahnung, was für knifflige Probleme auftauchen werden, wenn die Stadt (vielleicht) Ende des Jahrzehnts daran geht, ihren Projektentwurf in die Tat umzusetzen.

Denn was fehlt, wird in der Regel teuer. Die alten Kalkulationen kann man schlicht vergessen. Aber man wird sich auf den Stadtratsbeschluss berufen, der brav dem Verwaltungsvorschlag folgte, ohne die kritischen Details wirklich zu hinterfragen.

Aber das Heft bietet noch mehr. Denn Grundlage für die Ideen, mit denen der Neue Ufer e. V. all die Jahre die Grabenöffnungen befeuerte, waren immer tiefgehende Recherchen in den Archiven. Dazu muss oft gar nicht viel erklärt werden: Historische Fotografien machen all das, was heute aus dem Stadtbild verschwunden ist, sichtbar und lassen ahnen, wie mit den Grabenöffnungen auch wieder mehr Grün und Natur in die Stadt zurückkehren könnte.

Eine Chance, die die Stadt in den letzten Jahren oft verspielte, die Projektideen des Neue Ufer e. V. meist verwarf und dafür eigene, sehr von Stein und Beton geprägte Konstruktionen bevorzugte. Der Dissens zwischen Verein und Verwaltung ist nicht erst in der jüngeren Vergangenheit entstanden. Er schwelte schon seit mindestens sieben Jahren.

Das Ergebnis sind dann einige geöffnete Grabenstücke, an denen die Aufenthaltsqualität eher an eine Tiefgarage erinnert als an ein Stück Natur in der Stadt. Das wird beim Pleißemühlgraben an der Feuerwache wohl ganz ähnlich werden.

Die Gelegenheit dieses Grabenabschnitts nimmt Böhme zum Anlass, auch über ein noch völlig fehlendes Grabenstück zwischen Naturkundemuseum und Parthe zu berichten, das die Stadt zumindest als Option noch in ihren Zukunftsplanungen hat. Es ist der eigentliche Originalverlauf des Pleißemühlgrabens, der das Pleißewasser bis zur Parthe brachte.

Am Schulplatz gab es nur einen Überlauf, mit dem überschüssiges Pleißewasser in den Elstermühlgraben ablaufen konnte. Doch der Mühlgrabenverlauf zur Parthe wurde schon 1951 zugeschüttet, ist also noch mehr aus der Erinnerung getilgt als die erst zehn Jahre später verfüllten Grabenabschnitte.

Eine Öffnung dieses Stücks Pleißemühlgraben würde nicht nur weitere Quartiere wieder zu Wasserquartieren machen, sondern spielte auch eine Rolle beim Hochwasserschutzkonzept für den Zoo, denn der ist überschwemmungsgefährdet, wenn es wieder zu Hochwasser in der Parthe kommt. Der Pleißemühlgraben böte die Möglichkeit, das Parthehochwasser quasi gegen die Fließrichtung abzuleiten.

Und wie intensiv sich der im Waldstraßenviertel ansässig gewesene Verein mit der Situation beschäftigt hat, zeigt auch der Beitrag zum Naturkundemuseum, dessen Umsiedlung aufs Spinnereigelände ja bekanntlich gescheitert ist. Jetzt werden ja wieder die alten drei möglichen Standorte untersucht (Bowlingtreff, Stadtbad und altes Naturkundemuseum).

Und Neue Ufer plädierte eindeutig für einen Ergänzungsbau am Schulplatz, sodass das alte Gebäude sich mit einem für große Ausstellungen geeigneten Neubau verbinden würde, der geöffnete Pleißemühlgraben Wasser erlebbar machen würde und der Schulplatz selbst zu einem grünen Refugium werden könnte.

Auch dieses Projekt könnte sich am Ende als sinnvoller erweisen, als nun ausgerechnet die alten Gebäude von Stadtbad und Bowlingtreff für das Naturkundemuseum aufwendig umzubauen.

Ein Beitrag im Heft widmet sich dann freilich auch noch dem 2019 neu eröffneten Elstermühlgraben zwischen Thomasiusstraße und Lessingstraße, davon ausgehend aber gibt es auch noch informative Beiträge zu den archäologischen Funden auf dem Grund des alten Grabens (der ja in einem Teil seines Laufs vorher das Flussbett der Weißen Elster war, zu dem winzigen Eckgrundstück Thomasiusstraße 4, wo heute eine kleine Grünfläche ist, wo bis 1980 aber tatsächlich ein Haus stand, und zu Reichenbachs Badehaus, das hier einst an der Weißen Elster stand.

Doch diese Geschichte des Ortes verschwindet. Die neuen Gräben haben ein völlig anderes Flair. Die letztlich zwölf Hefte, die der Neue Ufer e. V. veröffentlicht hat, sind die durchaus beeindruckende Bilanz für die emsige (Forschungs-)Arbeit des Vereins, der im Dezember 2019 das Ende seiner Arbeit beschloss. Und nicht ganz grundlos ist auch ein Beitrag im Heft, der das Scheitern des Runden Tisches zum Wassertouristischen Nutzungskonzept (WTNK) des Grünen Rings schildert.

Auch dort erlebten die beteiligten Umweltvereine, wie wenig ihre Kompetenz in Sachen Umweltschutz von den versammelten Amtsinhabern geschätzt wird. Sie haben den Runden Tisch alle verlassen. Es hat sich in den letzten Jahren tatsächlich etwas verändert in der Zusammenarbeit von Stadt und Vereinen. Und das eindeutig nicht zum Kooperativen hin. Die Bürgerstadt ist erst einmal auf der Intensivstation. Und es sieht auch so aus, dass das auch in den Stadtratsfraktionen noch nicht wirklich verstanden wurde.

Das Heft Nr. 12 bekommt man beim Pro Leipzig e. V.

Der Verein Neue Ufer verabschiedet sich mit einem letzten Heft und deutlicher Kritik an der Verwaltungspolitik

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