Dass Bücher so etwas sind wie das Gedächtnis der Nation, das war zumindest den Menschen, die sich mit Büchern beschäftigten, schon im 19. Jahrhundert klar. Manche Nationalbibliothek hat ihre Ursprünge sogar im 18. Jahrhundert. Aber dass die im 19. Jahrhundert zum Massenmedium werdenden Zeitungen des Aufhebens wert sein könnten, das brauchte noch seine Zeit als Erkenntnis.

War das nicht simple Tagesware? Schon am nächsten Tag wieder veraltet? Wer interessiert sich denn für die Nachrichten von gestern? Gilt nicht das Primat der Gegenwart? Ab mit dem Zeitungsbündel ins Altpapier!

Blick ins Zeitschriftenlager. Foto: Ralf Julke
Blick ins Zeitschriftenlager. Foto: Ralf Julke

Obwohl da schon so ein leichter Verdacht gewesen sein muss, dass man den Zeitungen damit Unrecht tat. Ein Verdacht, der auch die Mitarbeiter der Deutschen Bücherei in Leipzig bewegte, die 1912 durch den Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, die Stadt Leipzig und das Königreich Sachsen als „Archiv des deutschen Schrifttums und des deutschen Buchhandels“ gegründet wurde. In Leipzig, dem Zentrum der deutschen Buchproduktion. Neben den Buchhändlern waren noch die Buchverleger dabei, die Zeitungsverleger aber nicht.

Und trotzdem stand von Anfang an die Frage: Was gehört eigentlich alles zum Schrifttum? Und damit zum Gedächtnis einer Nation? Und was sollte man auch dann sammeln, wenn es eigentlich nicht unter die Rubrik „Buch“ fällt?

„Denken Sie nur an unsere Weltkriegssammlung“, sagt Michael Fernau, seit 2008 Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und damit auch Herr über Millionen Medien, die keine Bücher sind. Fernau ist nur zu sehr bewusst, dass die beiden Nationalbibliotheken in Frankfurt und Leipzig etwas sind, was mehr ist als große Bücherbewahranstalten. „Was wir hier haben, das sind die Quellen, ist der Rohstoff“, sagt er.

Das Gedächtnis der Nation

Wer sich ein Bild vom Vergangenen machen will, wird hier fündig. Schwarz auf weiß steht hier, was geschah. Oder wovon die Autoren und Autorinnen meinten, dass es so war. Natürlich ersetzt so eine Nationalbibliothek nicht all die Archive, in denen Ämter, Regierungen, Universitäten und Verwaltungen ihr Tun dokumentiert haben. Aber: Sie sammelt den Stoff, mit dem eine schreibkundige Gesellschaft sich ihrer selbst immer wieder neu vergewissert.

Und sei es nur für den Tag. So wie zum Ende des Ersten Weltkrieges, als das Deutsche Reich mit Plakaten, Flugblättern und Depeschen geflutet wurde. Gedrucktem, das für gewöhnlich tatsächlich bald schon wieder verschwindet. Es sei denn, Bibliothekare sammeln es ein, weil sie wissen, dass das unwiederbringliches Material für die Forschung ist. Material, mit dem eine Zeit rekonstruierbar wird, die die Zeitgenossen tatsächlich als eine außergewöhnliche erlebt haben.

Wer Bücher sammelt – und sei es auch die komplette Jahresproduktion deutscher Verlage – weiß aber auch, dass in den Büchern gar nicht alles stehen kann. Dazu passiert zu viel. Und so finden sich – obwohl nicht zentraler Sammelauftrag – seit 1913 auch Zeitungen im Bestand der Deutschen Bücherei, die seit 2006 offiziell Deutsche Nationalbibliothek heißt. Zumindest die Leipziger Zeitungen – Leipziger Neueste Nachrichten, Leipziger Tageblatt, LVZ …

2006 trat das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek in Kraft, das erstmals auch Zeitungen in den Sammelauftrag der beiden Bibliotheksstandorte schrieb.

Eingang zum Zeitschriftenlesesaal. Foto: Ralf Julke
Der Eingang zum Zeitschriftenlesesaal. Foto: Ralf Julke

Denn inzwischen ist auch dem Gesetzgeber bewusst, dass Zeitungen ebenso zum gedruckten Gedächtnis der Nation gehören. Im Westen ist das schon länger klar. Die Nationalbibliothek in Frankfurt am Main sammelt seit 1968 Zeitungen – aber nicht in Papierform. Das würde sämtliche Lager sprengen. Sondern als Mikrofiche. Aus gutem Grund. Denn noch ärger als bei Büchern leiden Zeitungen unter dem Problem der Vergänglichkeit. Sie werden in der Regel nicht auf hochwertigem Papier gedruckt. „Sie können die Times einmal lesen, vielleicht zweimal, aber dann müssten Sie sie schon bügeln“, merkt Fernau augenzwinkernd an.

Wie kann man Zeitungen archivieren?

Er ist selbst eifriger Zeitungsleser. Ist noch in einer Zeit aufgewachsen und hat in Frankfurt studiert, als Zeitungen noch in jedem Haushalt zu finden waren. Als Regionalzeitungen in jeder Ecke Deutschlands zum Alltagslesestoff gehörten und das Fernsehen extra Zeitungsschauen veranstaltete, um die wichtigsten Berichte aus den großen Zeitungen des Landes zu reflektieren.

Liest er heute noch so viel? Ja, sagt Fernau. LVZ, Frankfurter Rundschau, FAZ und Guardian gehören zu seinem wöchentlichen Zeitungspensum, dazu New York Times, Spiegel und – natürlich die Leipziger Zeitung. Das Meiste davon inzwischen auch digital zugänglich. Die Zeitungen holt er sich am Bahnhof, Lesestoff für die Fahrt mit der Bahn. Gerade ausführliche Berichte lesen sich auf Papier ganz anders als auf kleinen Smartphone-Bildschirmen.

Aber wie hebt eine Nationalbibliothek die ganzen Zeitungen auf? Ein Blick ins Zeitschriftenlager ist keineswegs typisch, betont Catharina Sodann, die am Deutschen Platz für die Bestandserhaltung zuständig ist. Auch wenn man dort – einige – Zeitungen klassisch gebunden oder im Schuber sehen kann. Würde man sie so zum Lesen herausgeben, würden sie sich bald in Papierschnitzel verwandeln.

In Frankfurt hat man seit 1968 mit Mikrofiches gearbeitet: 440 westdeutsche Zeitungen wurden so systematisch archiviert. Abseits der Zeitungsarchive, die die Zeitungshäuser ja in der Regel auch selbst betreiben. Und oft sammeln auch die Stadtarchive die regionalen Zeitungen. Denn darin schlägt sich ja – in redaktioneller Auswahl – nieder, was alles so passiert und wovon zumindest die ausgebildeten Redakteure annehmen, dass es wichtig ist.

Was in der Zeitung steht, erfahren alle. Oder: erfuhren alle. Denn diese gemeinsame Wissensbasis zerbröckelt, wenn immer weniger Menschen eine Regionalzeitung lesen und sich aus immer diffuseren Quellen im Internet irgendwie informieren, ohne zu wissen, ob dahinter ein professionelles Redaktionsteam sitzt oder nicht.

Blick in den Zeitschriftenlesesaal der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig. Foto: Ralf Julke
Der Blick in den Zeitschriftenlesesaal der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig. Foto: Ralf Julke

Worüber wollen sich Menschen verständigen, wenn es nicht einmal eine gemeinsame Wissensbasis gibt?

Eine nicht unwichtige Frage in unserer Zeit. Die modernen digitalen Medien haben ihre Vor- und ihre Nachteile. Zu den Vorteilen gehört: Zeitungen lassen sich leichter sammeln und archivieren. „Seit 2010 sammeln wir alles nur noch in digitaler Form“, sagt Sodann. 1.600 deutsche Tageszeitungen schicken ihre Ausgaben entweder als PDF oder inzwischen auch als e-Paper an die beiden Nationalbibliotheken.

Dazu kommen noch Hunderte weiterer Periodika – von Wochen- und Monatszeitungen bis hin zu Magazinen. Ein gewaltiger Fundus, den man eigentlich nur noch vernetzen und verschlagworten müsste – und schon wäre das das aktuellste Archiv, in dem jeder Wissbegierige alles suchen und finden könnte, was ihn interessiert. Nur: Eben das geht nicht.

Denn aus durchaus verständlichen Gründen versuchen gerade große Zeitungshäuser ihr Archiv zu schützen, geben also die Digitalisate in der DNB nicht einfach frei zur öffentlichen Nutzung.

Chancen der Digitalisierung

Dabei ist sich Michael Fernau sicher, dass der Weg genau da hinführen wird. Sodass über eine zentrale Suche wenigstens recherchierbar ist, welche Zeitung zu welchem Thema eigentlich berichtet hat. Dann lassen sich die Titel auch gebündelt zur Forschung bereitstellen. Das wäre ein ungemein hilfreiches Werkzeug für Forscher, aber auch für Journalisten. Hier könnte sogar Künstliche Intelligenz (KI) helfen, um die vielen Artikel, Überschriften, Bildunterschriften, Kommentare usw. zu durchforsten und die Spreu vom Weizen zu trennen. Das hält Fernau durchaus für lösbar. Schwieriger wird es wohl, die Zeitungsverleger zu überzeugen, ihre Zustimmung für diese Vernetzung des Zeitungsfundus zu geben.

Um welche Größenordnung aber geht es da? „Aktuell sind bei uns rund 67.000 laufende Titel mit circa 600.000 Einzelausgaben verzeichnet (Stand: 2021)“, fasst es die DNB zusammen. „Und täglich kommen fast 6.700 Ausgaben an Tages- und Wochenzeitungen, Zeitschriften, E-Paper und E-Journals hinzu.“

Das kann kein Bibliothekar mehr händisch erfassen, schon gar nicht im Zettelkasten. Das braucht einen klug programmierten Algorithmus, der automatisch erfasst, was die eingelieferten Titel alles beinhalten. Und der es damit – per Suchfunktion – auffindbar macht.

Was dann freilich die nur in Papierform vorliegenden Zeitungen und Zeitschriften noch nicht zugänglich macht: „Anfang 2022 hatten wir einen Bestand von rund 311.000 gedruckten Periodika-Titeln, davon knapp 55.000 laufende. Täglich kommen rund 2.300 Ausgaben und Hefte hinzu“, so die DNB.

Hier kann tatsächlich nur die nachträgliche Digitalisierung helfen, so Fernau. Auch diese Technik entwickelt sich so langsam. Sie ist deutlich anspruchsvoller als die Digitalisierung von Büchern, denn Zeitungspapier ist oft nicht nur gefaltet und brüchig, auch Text und Bild scheinen oft auf der Rückseite durch. Aber Fernau hält auch das für lösbar, auch wenn diese Technik wohl erst weit nach seiner Zeit als Direktor der DNB bezahlbar wird, sodass auch die Nationalbibliothek sich die entsprechenden Geräte anschaffen kann. Aber das Problem der vom Zahn der Zeit bedrohten Zeitungsbestände haben ja alle Bibliotheken weltweit, die Zeitungen sammeln. Das Interesse daran, die Nachrichten der Vergangenheit digital zu sichern, dürfte also auch bei jenen groß sein, die das Geld haben, diese Verfahren zu entwickeln.

Und wenn die Periodika digitalisiert sind, sind sie auch im Zeitschriftenlesesaal der DNB zugänglich. Eine ungemein reiche Fundgrube für alle, die Zeitungen als Originalquellen zur Zeit verstehen. Und schon jetzt ist das Material schier unüberschaubar: Anfang 2022 hatte die Nationalbibliothek rund 3,2 Millionen digitale Ausgaben in ihrem Bestand. Über eine barrierefreie, weltweit nutzbare E-Paper-Suche stehen diese für Recherchen zur Verfügung und können in den Lesesälen der Nationalbibliothek dann aufgerufen werden.

Der Weg in die Zukunft ist also bereitet. Ein Weg, den Fernau noch immer aufregend findet, auch wenn er die „Rohstoffquelle“ am Deutschen Platz in Leipzig nur noch ein halbes Jahr leiten wird. Dann geht er in den Ruhestand.

Info: Deutsche Nationalbibliothek (DNB) Leipzig, Deutscher Platz 1, 04103 Leipzig
Internet: www.dnb.de

Michael Fernau ist Direktor in Leipzig und ständiger Vertreter des Generaldirektors. Der gebürtige Frankfurter studierte Rechts- und Politikwissenschaften in Gießen und Frankfurt am Main sowie postgradual Verwaltungs- und Finanzwissenschaften in Speyer und Siegburg. Nach 13 Jahren als Justiziar einer Oberfinanzdirektion und Behördenleiter in Hessen übernahm er 2001 die Leitung der Zentralverwaltung der Deutschen Nationalbibliothek. Seit Anfang 2008 ist Michael Fernau Direktor unseres Leipziger Hauses und war zugleich von Ende 2010 bis Mitte 2016 in Personalunion Leiter des Deutschen Musikarchivs der Deutschen Nationalbibliothek.

Der Artikel „Was bleibt von der Zeitung?“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen und letzten Printausgabe 111 der Leipziger Zeitung (LZ).

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