Vielleicht sollten ja doch einige Autoren und Stadtbilderklärer dieser Tage die Ausstellung zur 1.000-jährigen Geschichte der Stadt Leipzig besuchen und etwas genauer hinschauen. So einige der wilden Erzählungen aus den vergangenen 100 Jahren werden dort stillschweigend, nebenbei oder auch sehr publikumswirksam korrigiert. Dazu gehört jetzt auch die Fleißarbeit von acht Jungen aus der August-Bebel-Grundschule.

Das kam nicht ganz zufällig, denn zwei der Jungen sind die Enkel von einem der umtriebigsten Denkmalschützer der Stadt: von Dr. Wolfgang Hocquél. Wer so einen Opa hat, der kann damit rechnen, dass es mal einen kleinen Anruf in der Schule gibt, frei nach der Devise: Wäre das nicht mal was für euch?

Zum Beispiel als Projekt? So ein bisschen Stadtgeschichte für die neugierigen Schüler und am Ende dann eine echte Aufgabe: Die Rekonstruktion der ganz alten Stadt, der “urbs libzi”, die bei Thietmar von Merseburg für 1015 erstmals erwähnt wird. Museumsdirektor Volker Rodekamp hatte das Projekt schon zur Ausstellungseröffnung angekündigt. Noch ein bisschen flapsig, denn es war ja nicht unbedingt zu erwarten, dass die Phantasie mit den Kindern nicht durchgeht.

Aber am Ende hatten die Jungen eine Menge fachliche Begleitung. Sie besuchten den Matthäikirchhof, um den richtigen Standort der alten Burg mal zu sehen, besuchten auch die Ausstellung, wo sie auch die Rekonstruktionszeichnungen von Herbert Küas zur alten Burg sahen, wo sie aber auch erfuhren, was die sächsischen Archäologen um Dr. Thomas Westphalen mittlerweile alles herausgefunden haben. Dr. Wolfgang Hocquél war eh dabei und holte auch noch den Architekten Rainer Ilg ins Boot, der für die Arbeitsgruppe unter Anleitung von Werklehrer Sebastian Auxl die nötigen Planzeichnungen anfertigte.

Die alte Siedlung Libzi sollte schon so authentisch wie möglich aussehen. Auch die Proportionen sollten stimmen. Thomas Westphalen spricht seit den Ausgrabungen an der Hainspitze eigentlich nur noch von der frühen Stadt und der Stadtburg, auch wenn die große Siedlung auf dem Sandsporn zwischen dem heutigen Richard-Wagner-Platz und dem Matthäikirchhof noch kein Stadtrecht hatte. Aber der nachgewiesene Burggraben umfasste ein Gebiet, das für damalige Verhältnisse schon eine große Siedlung bedeutete. Ganz oben, im Südzipfel der Anlage, stand die alte Burg, die aber nicht – wie Herbert Küas noch annahm – steinerne Gebäude oder gar einen steinernen Bergfried enthielt.

“Das wäre für diese Zeit im Gebiet östlich von Elbe und Saale eine Überraschung”, sagt Hocquél, dessen Bild von der alten ursprünglichen Stadt von Herbert Küas’ Ausgrabungen und Rekonstruktionen geprägt war. Doch die alte “urbs libzi” war nicht aus Stein gebaut, sondern aus Holz, Lehm und Stroh. Sie war von einem hölzernen Palisadenzaun umgeben. Und Thomas Westphalen vermutet auch die von Thietmar von Merseburg erwähnte erste Kirche der Siedlung innerhalb des Burgwalls. Möglicherweise am Nordende, im Bereich des heutigen Richard-Wagner-Platzes. Dort hätte dann auch der Friedhof seinen Platz gehabt.

Die acht fleißgen Stadterbauer mit Museumsdirektor und Werklehrer. Foto: Ralf Julke
Die acht fleißgen Stadterbauer mit Museumsdirektor und Werklehrer. Foto: Ralf Julke

Noch gibt es dazu freilich keine Befunde, betont der Landesarchäologe. Aber mit dem Märchen, auf dem Richard-Wagner-Platz hätte sich einst der erste Markt der Stadt und die Kreuzung der Via Regia und der Via Imperii befunden, hat ja schon der Begleitband der Ausstellung “1015. Leipzig von Anfang an” aufgeräumt. An einen Handelsweg im Verlauf des Ranstädter Steinweges war noch gar nicht zu denken. Wahrscheinlich konnte in Nähe der Siedlung die Parthe Richtung Norden überquert werden. Aber die Partheaue war noch – wie sich das für eine Flussaue gehört – sumpfig, morastig, von Tümpeln und Teichen durchzogen.

Mit so viel Vorlauf konnten die acht Jungen, die sich am Projekt beteiligten, durchaus das Meisterstück schaffen, binnen einer Woche die alte “urbs libzi” zum Leben zu erwecken. Sie bauten dutzende kleiner Häuser, malten sie an, knipsten tausende Streichhölzer ab, um das Baumaterial für den Palisadenzaun zu gewinnen, bastelten mit Liebe zwei große Burgtürme und einen großen Torturm. “Die sind ein bisschen groß geraten”, murmelte einer der anwesenden Experten am Dienstag, als die Kinder im Stadtgeschichtlichen Museum ihr fertiges Modell übergaben. Aber das gehört dazu. Hätte alles perfekt sein sollen, hätten sich gestandene Architekten ans Basteln gemacht.

So hat das Modell dieser frühen Siedlung einen doppelten Charme – den spielerischen, der ahnen lässt, wieviel Freude die Jungen am Bau eines mittelalterlichen Burgwardes hatten – samt ausgeformtem Geländesockel, auf dem die Siedlung steht, einer urigen Partheaue und ersten mutigen Siedlungshäusern östlich der Wälle, dort, wo 100 Jahre später die richtige Stadt gegründet werden sollte. Und das Modell weist trotzdem eine gewisse Treue zu den archäologischen Befunden auf, zeigt also wirklich erstmals, wie Leipzig in diesem fernen Jahr 1015 ausgesehen haben könnte.

“Ich  steh dazu”, sagt Dr. Thomas Westphalen und beglückwünscht den Museumsdirektor, der mit dem Modell auch eine echte Lücke in der Ausstellung schließen kann. Denn eine digitale Animation ein paar Schritte weiter konnte dieses alte “urbs libzi”, in dem einst Bischof Eid das Ende seiner Reise fand, nicht wirklich anschaulich zeigen. Das schafft das Modell der August-Bebel-Schüler dafür sehr liebevoll, samt Kühen und Pferden. Nur die Menschen fehlen noch – die Burgleute und die Bewohner der Siedlung, die um diese Zeit fast allesamt noch echte Sorben gewesen sein müssen.

Unterstützung bekamen die kleinen Bauleute vom Kinder- und Jugendkulturzentrum O.S.K.A.R. Und weil so viele Experten dabei waren, hat das Stadtmodell auch einen ordentlichen Maßstab von 1:500. “Bitte nicht berühren!” steht auch dran, damit’s nicht gleich wieder kaputt geht. Kann ja passieren, denn jetzt können die Ausstellungsbesucher erstmals so eine kleine Vorstellung davon bekommen, wie es hier aussah vor 1.000 Jahren.

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