Nicht nur Sachsen tut sich schwer, den 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution irgendwie ordentlich gefeiert zu bekommen. Das Jubiläum geht beinah unter in einer gesellschaftlichen Stimmung, in der mal wieder lauter Stereotype über den Osten ausgeteilt werden. Da geht auch unter, dass der Herbst ‘89 auch von einem starken ökologischen Moment getrieben wurde. Dafür steht der Pleißepilgerweg, der schon im Juni 1989 die Behörden verunsicherte.

Am 4. Juni 1989 hatten Mitglieder kirchlicher Umweltgruppen als „Arbeitskreis Weltumwelttag (AKW)“ die Veranstaltung „Eine Hoffnung lernt gehen – Pleißepilgerweg 1989“ organisiert, deren Route entlang des wegen seiner starken Verschmutzung unterirdisch kanalisierten Pleißemühlgrabens verlief. Die Behörden verboten den als kirchliche Veranstaltung angemeldeten Pilgerweg und stellten potentielle Teilnehmer unter Hausarrest.

Beteiligte an der Aktion sind bei der Veranstaltung am Dienstag, den 4. Juni 2019, im ehemaligen Stasi-Kinosaal in der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ ebenso anwesend wie Personen, die von der Stasi daran gehindert worden sind. Der Eintritt ist frei.

Die Veranstaltung zum Pleißepilgerweg ist Teil einer Gesprächsreihe mit Zeitzeugen zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution, zu der das Bürgerkomitee Leipzig e. V. einlädt. Im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe „Heute vor 30 Jahren – Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ stehen herausragende Ereignisse des politischen Protestes in Leipzig, die zur Friedlichen Revolution, zum Sturz der SED-Diktatur und zu einem demokratischen Neuanfang führten.

Ebenso wie der Beginn der Weimarer Republik 1919 und die Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 in der Bundesrepublik ist die Friedliche Revolution von 1989 ein zentrales Datum der Demokratiegeschichte in Deutschland, dem wir uns wieder stärker bewusst werden sollten. Die mit ihr wiedererrungenen Werte – Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – sind heute für ein gemeinsames Zusammenleben in Europa grundlegend und unveräußerlich.

Die bisher gewürdigten Termine:

15. Januar: die erste ungenehmigte Demonstration für demokratische Grundrechte am 15. Januar 1989

13. März 1989: Mehr als 500 DDR-Bürger, vorwiegend Ausreisewillige, gingen nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche auf die Straße und riefen bei ihren Protesten lautstark „Wir wollen raus! Wir wollen raus!“

7. Mai 1989: die Kommunalwahl. Zur Absicherung dieser „Schein-Wahl“ hatte die Stasi die Aktion „Symbol“ vorbereitet, doch Oppositionsgruppen hatten, so auch in Leipzig, eine Kontrolle der öffentlichen Stimmenauszählung organisiert. Dadurch konnte der regelmäßige Wahlbetrug der SED erstmals nachgewiesen werden.

4. Juni 1989: Pleißepilgerweg – politischer Protest gegen die Umweltzerstörung

Beim vierten Teil der Gesprächsreihe rückt der 4. Juni 1989 in den Mittelpunkt: An jenem Tag hatten Mitglieder kirchlicher Umweltgruppen als „Arbeitskreis Weltumwelttag (AKW)“ die Veranstaltung „Eine Hoffnung lernt gehen – Pleißepilgerweg 1989“ organisiert, deren Route entlang des wegen seiner starken Verschmutzung unterirdisch kanalisierten Flusses verlief. Die verrohrte Pleiße, die am Naturkundemuseum wieder verdreckt ans Tageslicht kam, war ihnen ausdrücklich „Geländer für gesellschaftliche Veränderungen“.

Die Umweltgesetzgebung der DDR war eigentlich vorbildlich. In der Praxis wurden diese Ansprüche aber nie erfüllt. Leipzig war die am stärksten belastete Großstadt der DDR. Eine öffentliche Diskussion über die augenscheinlichen Missstände unterband der SED-Staat und erklärte alle Daten über den Zustand der Umwelt stattdessen zum Staatsgeheimnis.

Die Behörden verboten den als kirchliche Veranstaltung angemeldeten Pilgerweg und stellten potentielle Teilnehmer unter Hausarrest. Den Umweltgottesdienst in der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig-Connewitz konnten sie hingegen nicht verhindern. Einige der etwa 1000 Besucher versuchten danach auf der geplanten Route des Pilgerweges in die Leipziger Innenstadt zu gelangen, um dort den Abschlussgottesdienst in der Reformierten Kirche zu besuchen. Sicherheitskräfte drängten sie ab und nahmen 83 Personen fest. An dem Abschlussgottesdienst nahmen über 400 Menschen teil.

In der Nacht vom 3. zum 4. Juni waren die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking durch Armee-Einheiten mit Panzern niedergeschlagen worden. Die offizielle DDR-Berichterstattung befürwortete das Massaker an friedlichen Demonstranten. Die „Chinesische Lösung“ hing von nun an wie ein Damoklesschwert über allen weiteren öffentlichen Aktivitäten. Insoweit hatte dieser 4. Juni 1989 für die weitere Entwicklung in Leipzig eine mehrfache Bedeutung.

Die Gesprächsteilnehmer

Bei der Veranstaltungsreihe „Heute vor 30 Jahren: Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution“ werden die jeweiligen Ereignisse aus dem Jahr 1989 und deren Hintergründe zunächst in einem einführenden Vortrag beleuchtet. Auch zeitgenössisches Filmmaterial über die Umweltverschmutzung in Leipzig wird zu sehen sein. Im Anschluss kommen u. a. die Zeitzeugen Klaus Kaden, Dietmar Motzer und Tobias Hollitzer unter der Moderation von Reinhard Bohse über das damalige Geschehen, aber auch über dessen Bedeutung für die heutige Gesellschaft miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch. Sie berichten auch über den Pleißemarsch 1988, der sich im Folgejahr zu einem Pleißepilgerweg entwickelte und unter kirchlichem Schutz stand.

Veranstaltungsort ist der ehemalige Stasi-Kinosaal der Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“. Eintritt frei. Beginn der Veranstaltung ist 19 Uhr.

Die nächsten Termine der Reihe sind der der 10. Juni 2019 (Straßenmusikfestival) und der 9. Juli 2019 (Statt-Kirchentag).

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