Seit 2010 erfreut das neu gestaltete Bach-Museum seine Besucher. Die einen mehr, die anderen weniger. Denn für Menschen ohne Behinderungen ist das Museum problemlos erkundbar. Aber wie ist es mit denen, die durch diverse Handicaps nicht in der Lage sind, so ein Museum barrierefrei zu erleben? Blinde und Sehbehinderte zum Beispiel? - Für sie hat sich seit Januar eine Menge verbessert.

Das ist nicht ganz selbstverständlich. “Ein ganzes Jahr Arbeit haben wir da hineingesteckt”, erzählt Kerstin Wiese, die Leiterin des Bach-Museums. Als das neue Museum im sanierten Bosehaus konzipiert wurde, war den Museumsmachern keineswegs klar, worauf es da alles zu achten galt: “Wie komplex das Thema tatsächlich ist”, sagt Kerstin Wiese. “An Barrierefreiheit haben wir damals schon gedacht.” Aber da habe man vor allem die mobilitätseingeschränkten und gehbehinderten Besucher vor Augen gehabt. Das habe man bei Fahrstuhlplatzierung, Türbreiten und Durchgängen alles berücksichtigt.

Aber für Renate Lehmann, Mitglied des Stadtvorstandes der Kreisorganisation Leipzig des Blinden-und-Sehbehinderten-Verbandes Sachsen e. V., wurde der Besuch im neugestalteten Museum zur Enttäuschung. Blinde und Sehbehinderte standen in der neuen Ausstellung tatsächlich regelrecht im Dunklen.

Schon vor zwei Jahren hat das kleine Museum auch für eine andere Betroffenengruppe eine Lösung gesucht und gefunden: für Taubstumme und Hörgeschädigte. Für sie hat man extra einen kleinen Videoguide entwickeln lassen.

Das war jetzt beim Thema Blinde- und Sehbehinderte nicht ganz so einfach.

Aber mit Renate Lehmann hatte Kerstin Wiese auch eine Fachfrau zur Seite, die dem Museum helfen konnte, die richtigen Lösungen zu finden. Fix und fertig gibt es sie erstaunlicherweise noch nicht am Markt. Auch in Leipziger Museen ist das Thema noch weitgehend ein Flickenteppich. Einige punktuelle Angebote gibt es im Völkerkunde- und im Stadtgeschichtlichen Museum. Aber ein komplettes System, das den Betroffenen den völlig selbstständigen Besuch der Ausstellung ermöglicht, hat jetzt erstmals nur das Bach-Museum.

Dieses System mit Tastmaterialien in der Ausstellung und einem beschreibenden Audioguide konnte das Museum mit Unterstützung des Blinden-und-Sehbehinderten-Verbandes Sachsen e. V. und der Deutschen Zentralbücherei für Blinde Leipzig (DZB) entwickeln und mit Hilfe des vom Freistaat Sachsen aufgelegten Förderprogramms Barrierefreies Bauen “Lieblingsplätze für alle” finanzieren. 24.000 Euro stecken in diesem Projekt.

Mit der DZB, so Kerstin Wiese, habe man dabei den wohl kompetentesten Partner an der Seite gehabt. Das beginnt mit einem taktilen Übersichtsplan, der gleich im Foyer zu finden ist, mit dessen Hilfe blinde und sehbehinderte Menschen einen Überblick über das Bach-Museum gewinnen können. Eigentlich ist es schon Station Nr. 2. Denn gleich am Eingang steht ja die große Bach-Büste, die man auch betasten darf. Die wohl einmalige Gelegenheit für Menschen mit Sehbehinderung, sich ein Bild vom berühmten Thomaskantor zu machen.

Alle Hörstationen im Museum wurden mit Braillebeschriftung versehen, und wichtige Exponate wie die ausgestellten Musikinstrumente, ein Stammbaum der Musikerfamilie Bach und ein barocker Stadtplan Leipzigs als Tastreliefs aufbereitet. Dabei hat man sich besonders Mühe gegeben, Folien für die Braille-Beschriftung zu finden, die sich auch ins Bild der Ausstellung einfügen. Aber alles, was in der Ausstellung zu lesen ist, hat man natürlich nicht in Braille-Schrift auf die Wände auftragen können.

Das meiste kann, wer will, in Tastbänden nachlesen, die in der Ausstellung an diversen Sitzmöglichkeiten ausgelegt sind. “Aber das alles zu lesen, das schafft man bei einem einzigen Besuch nicht”, stellt Renate Lehmann fest. “Da muss man mehrmals kommen. Und sich richtig Zeit nehmen.”

Aber der eigentlich wichtige Begleiter durch die Ausstellung ist der nun extra für Sehbehinderte hergestellte Audioguide.

Er enthält neben inhaltlichen Informationen auch Beschreibungen der Wege, Räume, Exponate sowie Hör- und Taststationen. So werden beispielsweise alle Bachstätten näher vorgestellt, die auf dem taktilen Stadtplan von Leipzig ertastet werden können.

Kerstin Wiese: “Bei der Entwicklung der Führung haben wir uns explizit an den Wünschen von blinden und sehbehinderten Menschen orientiert. Vor der professionellen Aufnahme der Audio-Führung fand ein Probelauf statt, bei dem zwei Vertreterinnen des Blindenverbandes sowie eine Mitarbeiterin der Zentralbibliothek für Blinde Leipzig den Guide im Museum getestet haben. Ihre Anregungen und Kritikpunkte wurden vor der abschließenden Produktion in die Führung eingearbeitet.”

Der Guide enthält zwar den kompletten Rundgang durch die Dauerausstellung. “Aber das Schöne ist”, betont Renate Lehmann, “dass man die Pausenfunktion nutzen und den Rundgang auch früher abbrechen kann. Oder man geht sofort zu der Station, die einen besonders interessiert.”

Die Führung für blinde und sehbehinderte Menschen läuft auf iPods mit eingeschalteter Voice-Over-Funktion, die vor Ort kostenfrei entleihbar sind. Im iTunes App Store steht die Führung für blinde und sehbehinderte Menschen als kostenloser Download zur Verfügung, die ebenfalls kostenfreie Fassung für Android Smartphones ist im Google Play Store erhältlich.  So kann man sich schon vor einem Museumsbesuch einen Eindruck verschaffen und sich dann vor Ort tatsächlich auf die Attraktionen und besonderen Schönheiten konzentrieren. Geht natürlich nur mit dem entsprechenden Mobilgerät.

Tatsächlich sieht alles ganz leicht aus, jetzt, wo es fertig ist.

“Doch man braucht ‘ne ganze Menge Zeit für so ein Projekt”, sagt Kerstin Wiese. “Und man lernt dabei eine Menge.”

2010 hätte man das in seiner Komplexität gar nicht so umsetzen können. “Aber jetzt, denke ich, ist es ein Referenzprojekt auch für andere Museen”, sagt Wiese. Denn es erfülle eine Bedingung, die die meisten Angebote dieser Art bisher nicht erfüllten: Es bietet den Betroffenen völlige Entscheidungsfreiheit. Sie sind nicht mehr auf spezielle Führungen angewiesen und können sich ihren Museumsbesuch selbst einteilen und gestalten. Der Audioguide macht es jetzt für viele Menschen überhaupt erst einmal möglich, ein Museum wie das am Thomaskirchhof ganz eigenständig zu besuchen und zu erleben und so viel Zeit darin zu verbringen, wie man möchte.

“Mit einem Besuch ist das nicht getan”, sagt Renate Lehmann. Für sie ist das umgesetzte Projekt eine kleine Revolution, denn das, was die Karten und Bücher mit Braille-Schrift und der Audioguide jetzt erlebbar machen, war 2010 so nicht einmal wahrzunehmen für Menschen mit Sehbehinderung. Es ist quasi so, als hätte das Bach-Museum für sie im Januar 2015 erst richtig eröffnet.

Für blinde und sehbehinderte Besucher, die darüber hinaus eine persönliche Museumsführung wahrnehmen möchten, wird auf Anfrage im Museum auch eine “Führung mit Berührung” angeboten. Im Rahmen dieser werden unter anderem Nachbauten historischer Musikinstrumente, Kopien barocker Kleidung, eine Büste von Johann Sebastian Bach und das Originalmodell des bekannten Bachdenkmals von Carl Ludwig Seffner durch Tasten erkundet.

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