Seit 14 Jahren gibt es ihn, den großformatigen Leipzig-Kalender der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH, der die Freunde der Messe-, Buch-, Musik-, und Noch-mehr-Stadt mit Kostbarkeiten aus der Fotosammlung des Stadtgeschichtlichen Museums beglückt. Auch für 2015, dem Festjahr zur 1.000-jährigen Ersterwähnung, gibt es jetzt einen. Es gelang diesmal, ein Foto von Thietmar von Merseburg aufzutreiben, das ihn am Pult beim Schreiben seiner Chronik zeigt.

Na gut. Das war jetzt geschwindelt. Ein solches Foto gibt es natürlich nicht. Wie so Vieles und Wichtiges aus Leipzigs Geschichte leider nirgendwo fotografisch festgehalten wurde. So dass sich der Zeitraum natürlich beschränkt, aus dem man sich bedienen kann, wenn man Ansichtswürdiges aus Leipzigs Geschichte zeigen möchte: ungefähr 160.000 Bilder aus rund 160 Jahren.

Vorzugsweise auch für die beliebten Kalender der LTM ausgewählt: die gläsernen Bilderschätze der Leipziger Glanz- und Boom-Jahre 1890 bis 1930, als die Stadt sich mauserte zur modernen Industrie- und beinahe auch Millionenstadt. Das verband sich in den alten Fotos von Herrmann Walther und Hohannes Bühler, so, wie es sich im Stadtbild verband, einem eindrucksvollen Mix historistischer Bauschnörkelei, bürgerlicher Pracht und den Bildern einer sich beschleunigenden Technik.

Im Kalender für 2015 überwiegen diesmal die Motive für dieses moderne, sich beschleunigende Leipzig, auch wenn wieder versucht wurde, so eine Art Mix hinzubekommen aus Atmosphäre, Kultur und Messetreiben. Die dreizehn Fotos im neuen Kalender stammen aus der Zeit von 1905 bis 1930. Doch die Zeitereignisse lassen sie weg. Was natürlich auffällt im Jahr des 100. Jahrestages des Ausbruchs des 1. Weltkrieges. War da keine Geschichte? – Natürlich war sie. Aber die begnadeten Stadtbildfotografen wie Herrmann Walther hatten sich auf die Veränderungen im Bild ihrer Stadt spezialisiert, die in ihrer Zeit allerorts sichtbar wurden. Der gigantische Hauptbahnhof war 1912 gerade im Bau, als das Novemberbild entstand – die großen Stahlbetonbögen standen schon, das Stahlgerippe der Bahnsteighallen nahm Konturen an.

Das Juni-Bild zeigt ein anderes modernes Verkehrsmittel der Zeit: den Zeppelin “Sachsen” in der riesigen Luftschiffhalle in Mockau. 1913 war das – da war noch lange nicht entschieden, wem denn nun die Zukunft gehören würde: den Flugzeugen oder den Luftschiffen.

Auf den Straßen war das auch noch nicht entschieden, obwohl natürlich schon längst eins der modernsten Verkehrsmittel durch Leipzigs Straßen ratterte, auch durch die Grimmaische Straße, wohin die LTM am Dienstag, 2. September, zum Pressetreff eingeladen hatte, damit man die Perspektive genießen konnte vom Bürgersteig am Café Felsche aus, aufgenommen von Anton Blaschke. Man sieht links den Portikus des Neuen Theaters, geradeaus die breite Front der Hauptpost, angeschnitten den Turm der Johanniskirche. In der Mitte der Kreuzung steht eine Ampel. Alles so heute nicht mehr zu sehen.

“Um 1925” steht als Datierung drunter. Die Werbung für die IPA, die Internationale Pelzausstellung, aber verrät: Wir sind im Jahr 1930.Die großformatigen Aufnahmen laden ein zum Suchen. Was erkennt man wieder? Was verraten die Bilder über Zeit und Jahr? Manchmal braucht es doch die Bildunterschriften, die das Gezeigte erläutern. So erfährt der Kalenderbesitzer, dass Leipzig auch damals schon Automobilbau hatte: Die Polyphon-Musikwerke hatten ab 1904 begonnen, Lastkraftwagen in Lizenz zu bauen, ab 1909 bauten sie ein eigenes Automobil mit dem Namen “Dux” in der Linkelstraße in Wahren. Hermann Walthers Foto zeigt im August den Blick in die Fertigungshalle.

Der Februar zeigt dafür Rudolf Lauches “Fabrik für ätherische Öle”, die stand seit 1891 in der Mahlmannstraße in der Südvorstadt. Ein Blick in den Lesesaal der Deutschen Bücherei erfreut im März, im April schaut man mit drei ernsten Männern mit Bart, ob schon was wächst und knospt im Schrebergarten und im Mai sieht man, was das heutige “Haus Leipzig” um 1930 noch war: das Großkeglerheim der Leipziger Kegler, in dem Bahn neben Bahn einlud zum Kugelschieben.

Ein Leipzig wird da wieder sichtbar, das in Spuren vertraut wirkt, als wäre man da eben gerade noch um die Ecke gebogen, und doch ein ganzes Jahrhundert oder drei Epochen entfernt. In den Buntgarnwerken wird noch gearbeitet, die Eisenbahnbrücke über die Weiße Elster wird noch genutzt und dicker Qualm kommt aus den Schornsteinen über Plagwitz. Wer die Leipzig-Kalender sammelt, bekommt mit der Zeit einen großen Bilderbogen der Stadt in Schwarz-Weiß. Mit Schwerpunkt in jener Zeit, da die Stadt ratterte, klingelte, dröhnte und lärmte im Rhythmus einer neuen Epoche, die dann in zwei Kriege münden sollte, die auch dieses Leipzig wieder gründlich veränderten.

Der 40 mal 50 Zentimeter große Kalender kann wieder in diversen Buchhandlungen erworben werden. Die Signalfarbe dieses Mal: Taubenblau. Auf dem Umschlag sprudelt der Pleißemühlgraben vorm Reichsgericht. Oder sollte man doch lieber sagen: Er schäumt? Das neue Zeitalter kündigte sich auch mit seltsamen Gerüchen in Leipzigs Gewässern an. Und Grünanlagen waren noch ordentlich eingezäunt. Und in der Harkortstraße fuhr eine Straßenbahn. Man könnte regelrecht nostalgisch werden.

Leipzig Tourist und Marketing GmbH (Hrsg.): “2015. Leipzig. Blick in die Stadtgeschichte”, Leipzig 2014, 19 Euro

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