Erfolg für einen Leipziger Autor, der mit seinem Roman einer Jugend in den disruptiven Nachwendejahren das Lebensgefühl einer ganzen Generation eingefangen hat. „Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis 2023 wird Domenico Müllensiefen für seinen Roman ‚Aus unseren Feuern‘ (Kanon Verlag) verliehen“, meldete am Donnerstag, dem 20. Juli, die Mecklenburgische Literaturgesellschaft e. V.

Eine sechsköpfige Jury hatte Müllensiefens im Frühjahr 2022 veröffentlichten Roman aus einer Vielzahl an eingesandten Debüts aus den Bereichen Prosa und Essayistik für den diesjährigen Preis ausgewählt. Die feierliche Preisverleihung findet im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage am 22. September 2023 im Schauspielhaus Neubrandenburg statt.

Die Jury begründet ihre Entscheidung folgendermaßen:

„Mit Domenico Müllensiefens ‚Aus unseren Feuern‘ liegt ein Debütroman vor, der Staunen macht: Mit der Romanform weiß er in allen Belangen umzugehen: Aufbau, Spannungsführung, Rhythmus, Komposition. Die Simultantechnik, die er für seine zwei Zeitebenen braucht, beherrscht er souverän und schafft einen beeindruckenden Erzähl-Raum. Der Autor schreibt, als würde er lange schon nichts anderes tun: So souverän ist sein Erzählen, so dicht folgt er seinen Figuren, so präzise sind seine Schilderungen der Arbeitswelt, ob auf Elektromontage, in einem Schlachtbetrieb und nicht zuletzt in einem Bestattungsinstitut, dem Arbeitsplatz des Erzählers.

Abgesehen davon, dass sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur derart überzeugende Schilderungen der Arbeitswelt nur in Ausnahmen finden, stellt sich bereits hier ein Bezug zu Uwe Johnson her. Die Wahl seiner ‚Personen‘ in den Romanepos ‚Jahrestage‘ hatte der nämlich so begründet. ‚Ich bin überzeugt‘, so Johnson, ‚dass die ‚einfachen Leute‘ das erheblichere Beispiel abgeben für Lebensverhältnisse in unserer Zeit, nicht allein wegen ihrer Überzahl, auch nicht nur, weil sie in der Verteilung des Nationaleinkommens jenseits allen gerechten Verhältnissen benachteiligt sind; insbesondere, weil sie jede Verschlechterung der Lage unerbittlich ausbaden müssen, ihre Schwierigkeiten mit dem schärfsten Risiko überwinden müssen, ohne das Geldreserven sie auffangen und Privilegien sie schützen.‘

Genau mit diesen Verhältnissen und den entsprechenden Problemlagen sehen sich die Protagonisten in Domenico Müllensiefens Roman konfrontiert. Mit schrägem Witz, mit Empathie für einen Unglücksraben und einer dubiosen Krimispur zeigt er, was die Transformation der ostdeutschen Gesellschaft nach ‚Wende‘ und Wiedervereinigung für die in Leipzig und Umgebung bedeutet haben.

Dabei ist die Geschichte auf zwei Ebenen erzählt, von der Gegenwartsebene im Jahr 2014 wird vom Ich-Erzähler Heiko unvermittelt in die Vergangenheit der Nullerjahre zurückgegangen. Wie bei Uwe Johnson spielt mithin das ‚Prinzip Erinnerung‘ eine gewichtige Rolle. In der erinnerten Zeit halten die Protagonisten Heiko, Thomas und Karsten sich für unsterblich – aber niemand gibt ihnen eine Perspektive und erlöst sie von der Langeweile.

Was für die jungen Leute gilt, das trifft noch mehr für die Elterngeneration zu, die aus einer ‚arbeiterlichen Gesellschaft‘ in eine kapitalistische mit anderen Maximen katapultiert wird. Domenico Müllensiefen gehört der Generation seiner Protagonisten an, doch braucht er keine Schlagworte für Jugendgewalt und Wut, für die schwindenden Gewissheiten der Erwachsenen oder westdeutsche Karrieren im Osten. Er verwandelt das alles in Literatur, erzählt davon anhand der Entwicklung einer Freundschaft zwischen drei Jungen, die zu Männern werden, und deren Wege sich trennen. So hat er die Jury von seinem Debütroman überzeugt.“

Jury und Preis

Der Jury gehören an: Gundula Engelhard (Geschäftsführerin der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft), Carsten Gansel (Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Gießen; Sprecher der Jury), Cornelia Geißler (Literaturredakteurin der Berliner Zeitung), Michael Hametner (ehemals leitender Literaturredakteur und Moderator bei MDR FIGARO), Kathrin Matern (Kulturjournalistin für den NDR) und René Strien (ehemaliger Geschäftsführer des Aufbau Verlages und seit 2018 Geschäftsführer des OKAPI Verlages Berlin).

Für den Uwe-Johnson-Förderpreis konnten Autorinnen und Autoren oder deren Verlage bis zum 1. März 2023 seit Anfang April 2021 veröffentlichte oder noch unveröffentlichte Arbeiten aus den Bereichen Prosa und Essayistik einreichen. Der Förderpreis würdigt herausragende literarische Erstlingswerke, in denen sich Anknüpfungspunkte zur Poetik Uwe Johnsons finden und deren Blickwinkel unbestechlich und jenseits „einfacher Wahrheiten“ auf die deutsche Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerichtet ist.

2005 wurde der Uwe-Johnson-Förderpreis erstmals verliehen. Die bisherigen Preisträgerinnen und Preisträger sind Arno Orzessek (2005), Emma Braslavsky (2007), Thomas Pletzinger (2009), Judith Zander (2011), Matthias Senkel (2013), Mirna Funk (2015), Shida Bazyar (2017), Kenah Cusanit (2019) und Benjamin Quaderer (2021).
Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis wird von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft e. V. in Neubrandenburg gemeinsam mit dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg KdöR und der Berliner Kanzlei Gentz und Partner im jährlichen Wechsel mit dem Uwe-Johnson-Literaturpreis vergeben.

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