Paukenschlag im Gewandhaus: Kapellmeister Riccardo Chailly löst seinen Vertrag zum Saisonende auf. Dies teilte das Konzerthaus am Donnerstag in einer Pressemitteilung mit. Die Spielzeit 2015/16 wird damit die letzte mit dem Italiener an der Spitze des international renommierten Klangkörpers sein.

Bei der feierlichen Saisoneröffnung am vergangenen Freitag war von einem nahen Abschied des Gewandhauskapellmeisters nichts zu spüren. Chailly dirigierte so souverän und professionell wie immer, richtete auch keine Worte ans Publikum. Zwar stand der Maestro in Leipzig noch bis 2020 unter Vertrag.

Allerdings kündigte Chailly schon im Mai seinen schleichenden Rückzug an. In der Vorsaison musste der Mailänder mehrere Dirigate aus gesundheitlichen Gründen absagen. Außerdem kündigte er seinen nahenden Rückzug aus dem Tourneebetrieb an. Die Herbstreise in die Residenzstädte London, Paris und Wien im Oktober sollte demnach die letzte mit dem Chefdirigenten sein. Seit Januar diesen Jahres ist Chailly obendrein Chefdirigent der Mailänder Scala.

Jetzt hat Chailly reinen Tisch gemacht. OBM Burkhard Jung (SPD) hat der vorzeitigen Vertragsauflösung schon zugestimmt. “Die internationale Strahlkraft, die Riccardo Chailly mit dem Gewandhausorchester entwickelt hat, ist von unschätzbarem Wert für die Stadt Leipzig. Ich danke Riccardo Chailly für seine musikalische Leidenschaft, mit der er das Orchester zu künstlerischen Höhenflügen geführt hat und er damit zu einem außerordentlichen Botschafter der Stadt Leipzig wurde.”

Riccardo Chailly übte das Amt des Gewandhauskapellmeisters seit 2005 aus. Seither widmete er sich überwiegend dem Kernrepertoire des Orchesters. Einen besonderen Stellenwert räumte er den Sinfonien Gustav Mahlers ein. Die Zyklen mit den Sinfonien von Beethoven, Schumann, Brahms und Mahler sowie drei große Oratorien von Johann Sebastian Bach wurden im In- und Ausland mit großem Erfolg aufgeführt und als CD- und DVD-Einspielungen herausgegeben, die mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurden.

“Riccardo Chailly ist es immer das wichtigste Anliegen, den Gedanken des Komponisten gerecht zu werden und sie für uns heute erfahrbar zu machen. Wir schätzen seine beispielhafte Ernsthaftigkeit in der Erarbeitung, die Präzision in der Gestaltung und sein untrügliches Gespür für die inneren Zusammenhänge der Musik”, sagt Tobias Haupt, Vorsitzender des Orchestervorstandes. Lobende Worte erntet der Kapellmeister auch von seinem Vorgesetzten. “Nicht zuletzt der zehnjährigen Ära von Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly ist es zu verdanken, dass das Gewandhausorchester seine Spitzenposition unter den Weltklasseorchestern behauptet hat, sein internationales Renommee auf beeindruckende Weise ausbauen und seinen Ruf als Uraufführungsorchester wiedererlangen konnte”, erklärt Gewandhausdirektor Andreas Schulz. “Für die zehn Jahre intensiver künstlerischer Zusammenarbeit bin ich sehr dankbar.”

Nachfolger von Riccardo Chailly gefunden

Wie es am 3. September aus dem Gewandhaus heißt, wurde bereits ein Nachfolger von Riccardo Chailly gefunden. Das Gewandhaus teilt außerdem mit, dass Riccardo Chailly immer dazu bereit war, seinen Vertrag bis 2020 zu erfüllen. Dennoch bat der Kapellmeister den Leipziger Oberbürgermeister, bereits jetzt nach einem Nachfolger zu suchen. Nach seiner Bitte begannen auch Sondierungsgespräche mit geeigneten Kandidaten. “Bis einer gefunden wird, würde er bis dahin bei uns dirigieren”, so Pressesprecher Dirk Steiner. Nächste Woche wird Chaillys Nachfolger der Öffentlichkeit vorgestellt. Wann genau, das teilt die Gewandhausgeschäftsführung rechtzeitig mit. Auch wer der Nachfolger sein wird, gibt man zeitnah bekannt.

Die Ansprüche von Haus und Orchester an den Kapellmeister sind hoch. “Das Kernrepertoire des Gewandhauses sollte das Kernrepertoire des Dirigenten sein. Mendelssohn als ‘Hausgott’ ist natürlich Voraussetzung”, erläutert Konzertbüro-Leiterin Sonja Epping. “Wir haben eine gute Beethoven-Tradition, weil das Haus für das Großmachen von Beethoven damals wie heute steht. Das Kernrepertoire von Brahms, Bruckner, Mahler und späte romantische Sinfonik sind die Schwerpunkte des Gewandhaus-Repertoires.”

Infrage kommen zunächst einmal alle Persönlichkeiten, die im Frühjahr für den Chefposten der Berliner Philharmoniker gehandelt worden sind. Mit Ausnahme von Kirill Petrenko, der Simon Rattle in Berlin beerben wird, und wohl auch Christian Thielemann, der die Dresdner Staatskapelle leitet und bei den Bayreuther Festspielen den eigens für ihn geschaffenen Posten eines Musikdirektors bekleidet.

Realistischer erschien bis vor Kurzem eine Verpflichtung des Letten Andris Nelsons, der sich in den letzten Jahren zu einem Leipziger Stammgast entwickelt hat. In dieser Saison wird er in Leipzig zwei Gewandhaus-Programme und ein Gastspiel des Boston Symphony Orchestra dirigieren. Allerdings verlängerten die Bostoner Nelsons Vertrag Anfang August 2022. Unwahrscheinlich ist die Verpflichtung des gefeierten Venezulaners Gustavo Dudamel. Der 34-Jährige dirigierte das Gewandhausorchester zuletzt 2007 und ist bis 2022 in Los Angeles gebunden.

Ein attraktiver Kandidat könnte Alan Gilbert sein. Der Chef der New Yorker Philharmoniker kündigte im Februar an, 2017 von dem Amt zurücktreten zu wollen. Der US-Amerikaner ist wie Nelsons Dauergast in den Großen Concerten. 2014 eröffnete er in Vertretung für Chailly sogar die Saison mit Mahlers 7. Sinfonie im Großen Saal und Beethovens Neunter auf dem Augustusplatz. Im kommenden Februar wird Gilbert in Leipzig Werke von Henri Dutilleux, Robert Schumann und Jean Sibelius dirigieren. Zunächst ist am Gewandhauspult jedoch Riccardo Chailly gefragt. Der Noch-Kapellmeister leitet heute Abend den zweiten Teil des Mozart-Strauss-Zyklus. Das letzte Konzert mit dem Italiener im Amt des Kapellmeisters wird am 18. Juni stattfinden. Auf dem Spielplan steht Bachs Matthäus-Passion in der Bearbeitung von Felix Mendelssohn Bartholdy.

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Schon beim Open-Air-Konzert vergangenen Samstag auf dem Augustusplatz hatte ich mich über Chaillys Auftritt und die verbreitete Stimmung gewundert. Keine Begrüßung und keine eigens einstudierte Zugabe (als “Zugabe” gabs nur nochmals die letzten paar Dutzend Takte aus dem “Till”). Die Begrüßung von Herrn Schulz war ungewohnt redundant und leicht unsicher. Es war regelrecht anzumerken, dass eine Störung im Betriebsfrieden vorliegen musste.

Dem Online-Artikel der Lokalgazette entnehme ich die Auffassung, dass Chailly in Leipzig privat nie wirklich heimisch geworden sei. Das würde mich nicht wundern. Das Bildungsbürgertum in Leipzig ist immer noch sehr schwach ausgeprägt. Böse Gerüchte sagen sogar, dass die meisten Gewandhausbesucher aus dem Umland kommen und gerade nicht aus Leipzig…

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