Im September veröffentlichte das Statistische Landesamt des Freistaates Sachsen seine Meldung zu den Inobhutnahmen in Sachsen. Was sofort auffiel: Während die Zahlen in Dresden und Chemnitz relativ stabil blieben, stiegen sie in Leipzig von einem sowieso schon höheren Niveau weiter an. 2.505 Kinder und Jugendliche (1.359 Jungen und 1.146 Mädchen) wurden im Jahr 2012 durch die Jugendämter in Sachsen in Obhut genommen, rein rechnerisch sieben pro Tag.

Die Unterbringung erfolgte überwiegend in Einrichtungen, aber auch bei geeigneten Personen. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes wurden damit 204 Inobhutnahmen (9 Prozent) mehr als 2011 durchgeführt. 15 Prozent der Inobhutnahmen (380) geschahen auf eigenen Wunsch des Kindes/Jugendlichen, die zu 74 Prozent 14 Jahre und älter waren. Die restlichen (2.125) Inobhutnahmen veranlassten in Folge dringender Gefahr die sozialen Dienste der Jugendämter (1.633) sowie Polizei und Ordnungsbehörden (227). 79 Hinweise kamen von Verwandten und Nachbarn, Lehrern und Erziehern, Ärzten und sonstigen Personen. In 7 Prozent (186) der Fälle wurde die Inobhutnahme auf Anregung der Eltern bzw. eines Elternteils ausgelöst.

Die meisten jungen Menschen baten vor allem wegen Überforderung der Eltern bzw. eines Elternteils und Beziehungsproblemen um Hilfe. Weitere Gründe waren unter anderem Vernachlässigung, Kriminalität bzw. eine Straftat, Schul-/Ausbildungsprobleme, Anzeichen für Misshandlung und Integrationsprobleme im Heim oder in der Pflegefamilie.

Für 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen endete die Inobhutnahme innerhalb von zwei Tagen, für weitere 40 Prozent innerhalb der nächsten 12 Tage. 1.152 der jungen Menschen kehrten danach ins gewohnte soziale Umfeld zurück, das heißt zu dem/den Sorgeberechtigten bzw. in die Pflegefamilie oder das Heim. Für 775 Mädchen und Jungen schlossen sich erzieherische Hilfen außerhalb des Elternhauses an.

Leipzig erschien in der Statistik des Landesamtes mit 725 Inobhutnahmen, Dresden hatte 505 und Chemnitz 349 Fälle zu verzeichnen. Schon 2011 hatte Leipzig eine sehr hohe Zahl von Inobhutnahmen von 639, im Jahr 2010 hingegen lag die Messestadt mit 376 Inobhutnahmen noch deutlich hinter Dresden, das damals auf 498 kam. Binnen zweier Jahre ist die Zahl also in Leipzig deutlich angezogen.

Wobei die Zahlen nicht ganz deckungsgleich sind, die im Statistischen Landesamt in Kamenz und in Leipzig vorliegen. Die Linksfraktion im Leipziger Stadtrat hatte gleich am 9. September einen Fragenkatalog an die Stadtverwaltung formuliert. Das Dezernat Jugend, Soziales, Gesundheit und Schule gab nun Auskunft und gab eine ganz neue Zahl an: Danach wurden in Leipzig 2012 sogar 746 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Die Steigerung war hingegen nicht so hoch wie vom Statistischen Landesamt ausgewiesen, absolut 46 Fälle und prozentual 6,6 %. Was auch bedeutet, dass es auch schon 2011 genau 700 Fälle gab.

Von den 2012er Fällen waren 123 Selbstmeldungen. Die übrigen 623 Inobhutnahmen erfolgten aufgrund von Meldungen Dritter.

“Im Jahr 2012 wurde mit ca. 41 % der Fälle als häufigster Grund einer Inobhutnahme die ‘Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteiles’ genannt. Es folgten ‘Beziehungsprobleme’ mit 15,5 %, ‘Delinquenz’ mit 7,4 %, ‘Anzeichen körperlicher oder seelischer Misshandlung’ mit 6,6 % sowie ‘Vernachlässigung’ mit 6,2 % als weitere Inobhutnahmegründe”, erläutert das Dezernat. “Seit 2005 ist der Inobhutnahmegrund ‘Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteiles’ stetig angestiegen.”Was natürlich ein kleines Licht wirft auf die nach wie vor große Problematik des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in Leipzig. Ein Drittel aller Kinder leben in armutsgefährdeten Familien. Was nicht heißt, dass die in Obhut genommenen Kinder nur aus solchen überforderten Familienhäusern kommen. Aber das Kriterium “Überforderung der Eltern” deutet darauf hin, dass es auf die meisten Kinder, die in Obhut kamen, zutrifft. Zumeist ist diese Inobhutnahme zeitlich beschränkt. “In 135 Fällen erfolgte eine Herausnahme aus der Familie”, teilt das Dezernat mit.

Aber die Linksfraktion wollte genauer wissen, warum die Zahlen in Leipzig weiter angestiegen sind. Die Antwort ist freilich recht summarisch: “Der Anstieg der Inobhutnahmen in Leipzig hängt mit gesetzlichen Veränderungen im Kinderschutz und der damit verbundenen stärkeren Zusammenarbeit in Netzwerken, mit einer gestiegenen Aufmerksamkeit in Öffentlichkeit und Institutionen sowie mit zunehmend komplexen Problemlagen in Familien zusammen”, erläutert das Dezernat. Denn die gestiegenen Zahlen erzählen nicht unbedingt von einer angewachsenen Problematik, sondern viel eher von einer höheren Sensibilität von allen Beteiligten.

Was in Leipzig auch mit einem medial besonders aufmerksam begleiteten Ereignis zusammenhängt: dem Tod einer jungen drogenabhängigen Frau und ihres zweijährigen Kindes im Juni 2012 in Gohlis.

Die zunehmenden Inobhutnahmen kosten natürlich auch Geld. Wie will die Stadt da vorsorgen, fragte die Linke. – “Zur Sicherung der Aufgaben im Kinderschutz erfolgt im ASD eine konsequente Aufgabenpriorisierung. Kinderschutzfälle werden vorrangig bearbeitet. Es ist der Aufbau einer Krisen-WG geplant. Weitere Plätze zur stationären Betreuung von Kindern nach erfolgter Inobhutnahme befinden sich im Aufbau.”

Und wie kann man schon im Vorfeld verhindern, dass Familien überhaupt in solche Lagen kommen, dass die Kinder in Obhut genommen werden müssen?

Prävention ist das Stichwort. Aber die hat, wie das Sozialdezernat aus langjähriger Erfahrung weiß, ihre Grenzen: “Kindeswohlgefährdung kann im Einzelfall durch intensive Elternarbeit in vorhandenen Regelangeboten vorgebeugt, jedoch nicht ausgeschlossen werden. Durch die Intensivierung der Netzwerkarbeit und die frühzeitige Meldung von Gefährdungsfällen kann im Einzelfall eine frühzeitige geeignete Unterstützung der Familien erfolgen.”

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