Ob das mit den 200.000 Lichtfest-Teilnehmern so stimmt, wie die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH (LTM) meldet, daran darf man wohl zweifeln. Am Abend des 9. Oktober geisterten Zahlen von 80.000, 100.000, 125.000 durch die Luft. Wer zählt aber wirklich die Leute, die zu so einem Volksfest pilgern? Dass Leipzigs Oberbürgermeister sich wie der glücklichste Oberbürgermeister der Welt fühlte - keine Frage. So viel Prominenz hatte er noch nie auf einer Bühne zusammen.

Keiner krittelte, keiner störte die selige Botschaft. Auch der Protest gegen den Auftritt des ungarischen Staatspräsidenten János Áder blieb brav an der Seite. Der Rest war Lichterglanz. Nur vorher gab’s einen Seitenruf vom Stadtmagazin “Kreuzer”. Der warf dem Leipziger Stadtmarketing (also dem LTM) vor, aus der Friedlichen Revolution eine “Verkitschte Revolte” gemacht zu haben: “Mit dem Lichtfest hat das Leipziger Stadtmarketing die Deutungshoheit über die Erinnerung an den 9. Oktober 1989 übernommen. Es führt seit Jahren ein kitschiges Revolutions-Disneyland auf, das konstruktives Erinnern verhindert und zu Geschichtsklitterung führt.” So zu lesen im Oktober-Heft des “Kreuzer”.

Wenn das so ist, dann ist die LTM damit nicht allein. Dann basteln eine ganze Menge Leute an einer Verherzigung des Herbstes 1989. Und wer rechtzeitig auf dem Platz war oder in der Nikolaikirche oder noch früher im Gewandhaus, der sah sie fleißig am Werk, die emsigen Deuter. Ein Staatspräsident mochte man an diesem Tag nicht gewesen sein – einen ganzen Tag auf offenem Parkett, die ganze Zeit wichtig aussehen und dann auch noch Reden halten, die zu Herzen gehen. Als die Garde der Repräsentanten am Abend um 19 Uhr dann auf die kleine Tribüne vorm Opernhaus stiegen, hatten sie alle schon diverse Reden und Toasts hinter sich. Die andächtige Teilnahme am Friedensgebet in der Nikolaikirche ebenfalls, das diesmal deutlicher, als es später auf dem Platz artikuliert wurde, daran erinnerte, dass derzeit heftige Kriege die Welt erschüttern. Der Ukraine, Syrien, dem Irak waren am Ende die Gebete gewidmet, die Bittgebete darum, dass sich die Kämpfenden der Botschaft “Keine Gewalt!” erinnern mögen.
Aus christlicher Sicht ist das richtig. Und wichtig. Aus politischer Sicht ist es leider falsch. Auch auf den Herbst 1989 bezogen. Auch wenn wir heute noch immer staunen dürfen, dass der Herbst 1989 ohne größere Gewalt ablief. Dass er ohne Gewalt ablief, gehört schon zu den Verklärungen. Vor und nach dem 9. Oktober wurde sehr wohl Gewalt eingesetzt. Auch die Berliner (7.Oktober) und die Dresdner (ab 5. Oktober) können ein Lied davon singen.

Deswegen verplapperte sich ja auch Ministerpräsident Stanislaw Tillich nachher bei seiner kurzen Ansprache auf dem Augustusplatz, als er “5. Oktober” sagte – und sich schnell verbesserte und den 7. Oktober in Plauen, den 8. Oktober in Dresden (als dort die Gespräche in Gang kamen) und den 9. Oktober in Leipzig aufzählte. Aber zu seinem schönsten Versprecher kommen wir noch.
Das Friedensgebet wurde – genauso wie vorher die Veranstaltung im Gewandhaus – per Videowand auf den Augustusplatz übertagen, wo schon um 18 Uhr Tausende der Dinge harrten. Im Lauf der nächsten Stunde füllte sich der Platz zusehends. Das war so wie 2009 auch, als man am Ende von 100.000 Teilnehmern sprach. Das war schon eine Zahl, die an den 9. und den 16. Oktober 1989 erinnerte, als es damals so richtig losging. Mittlerweile haben ja Leipziger Forscher die alten Bilder ausgewertet und kamen auf eine Zahl von um die 125.000 Teilnehmern am 9. Oktober 1989. Die Polizei hatte “70.000 bis 100.000” nach Berlin gemeldet.

Nur war der Augustusplatz damals deutlich größer. Heute passen keine 100.000 mehr drauf. 200.000 schon gar nicht, wie es die LTM gemeldet hat. Das mag Marketing sein.

Aber auch das verwischt wieder den Blick auf die Realität. 18.35 Uhr läuteten die Glocken der Nikolaikirche. Dann noch Superintendent Martin Henkers Dank an Joachim Gauck: “Es war eine gute Idee von Ihnen, dass Sie die Präsidenten unserer Nachbarländer eingeladen haben.”
Der Effekt freilich war, dass sich an diesem Tag alles um die Staatspräsidenten Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns – Bronislaw Komorowski, Milos Zeman, Andrej Kiska und János Áder – drehte. Und um die anderen Berühmten, die man an diesem 9. Oktober nach Leipzig eingeladen hatte: James A. Baker, den Außenminister der USA von 1989, der beim Friedensgebet in der Nikolaikirche sprach, Henry Kissinger, den wohl berühmtesten Ex-Außenminister der USA, und Hans-Dietrich Genscher, der – als er die Bühne betrat – von den wartenden Leipzigern mit besonderem Beifall begrüßt wurde. Allein schon sein Auftritt in der Prager Botschaft sichert ihm seinen Platz in dieser Geschichte.

Kurze Reden sollten die Präsidenten halten. Daran hielten sie sich auch, nachdem Burkhard Jung sich wie der erste Teamplayer einer Mannschaft namens Leipzig präsentiert hatte: “Hallo Leipzig!” – Die Kurzfassung seiner Ansprache, die die LTM ausgereicht hat: “Heute ist ein großer, ein wunderbarer Abend. Der 9. Oktober 1989 und auch der 9. Oktober 2014 sind so wichtig. Ich freue mich, dass unsere Freunde aus den europäischen Nachbarländern hier sind. Auch Hans-Dietrich Genscher – unvergessen! Ich bedanke mich bei all jenen, die damals ihre Angst überwunden haben, auf die Straße gingen und mit ihrem Ruf ?Keine Gewalt!? ein gewalttätiges Regime in die Knie zwangen. Das ist die Botschaft von heute. Erzählt einander Eure Geschichten, erzählt Sie Euren Gästen. Hört zu, wenn sie ihre Geschichten erzählen. Nur so bleibt Geschichte lebendig. Wir haben die Chance, heute in die Welt hinauszurufen, in eine Welt, die voller Gewalt ist – die Botschaft von Frieden und Freiheit. Das ist die Botschaft von Leipzig!”

Was fehlt, ist der eigentliche Kernsatz: “Keine Gewalt! – Das ist eine ganz starke Botschaft.” Die müsse in die Welt hinausgerufen werden. Das ist christlich. Da kommt der Theologielehrer durch. Aber politisch ist es reines Marketing. Es verwechselt immer wieder die besondere Situation der späten DDR mit den hochgerüsteten Konflikten in der Welt. Vielleicht hat sich Henry Kissinger ein bisschen ins Fäustchen gelacht bei der Gelegenheit.

Für den es überschwängliches Lob gab – genauso wie für James A. Baker, stellvertretend für die USA. Auch von Joachim Gauck, der launig daran erinnerte, dass er ja Mecklenburger sei und die Sache in Rostock ein bisschen später losging – am 19. Oktober. Er bedankte sich auch besonders bei Solidarnosc und Charta 77, ohne die die Vorgänge in der DDR nicht vorstellbar waren. Und bei den USA, die als erste beherzt die deutsche Einheit befürworteten.

So langsam vermisste man einen Namen. Und er fiel auch nicht mehr. In keiner der Reden.Dafür fiel ein anderer, auch wenn der Mann nicht unter den Gästen war. Das war die Stelle, an der sich Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich so gründlich verplapperte, weil ihm partout der Vorname von Hans-Dietrich Genscher nicht einfallen wollte. Man merkte richtig, wie er danach suchte. Und dann sagte er eben einfach Helmut Genscher – und wie dankbar er ihm wäre. Womit er ja nichts Falsches sagte. Wenn es um die deutsche Einheit geht, gehören Genscher und Kohl zusammen. “Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich Ihre Aufmerksamkeit habe”, scherzte Tilich noch.

Die Kurzfassung von Tillichs Rede, die dann der LTM versendet hat: “Heute Abend – genauso wie in jedem Jahr – wird derer gedacht, die in Prag und Ungarn, in Leipzig, Dresden, Plauen und in der ganzen DDR auf die Straßen gegangen sind mit einer Kerze in der Hand und Hoffnung im Herzen. Damals kapitulierte ein Staat vor seinem Volk. Wir denken an die Menschen, die in den Jahrzehnten zuvor für ihr Streben nach Freiheit ihr Leben ließen oder Leid ertrugen. Die Wiedervereinigung hat ein Tor aufgestoßen, sie hat ein Kapitel beendet, das des Kalten Krieges. Heute leben wir in Frieden, und das ist nicht selbstverständlich. Wir denken deshalb heute auch an diejenigen, die in Afghanistan, Syrien oder Nordafrika um Frieden, Freiheit und Demokratie ringen. Es ist ein starkes Signal, dass Sie heute alle hier sind und demonstrieren, dass Sie sich den 9. Oktober im Herzen bewahren. Freiheit und Demokratie müssen jeden Tag neu errungen werden.”

Das Beste fehlt natürlich. Denn Tillich sprach auch über Angst – und wie die Angst 1989 die Seiten wechselte. Vorher waren es die Demonstrierenden, die ihre Angst überwanden – am Ende fürchtete sich die Staatsmacht vor ihrem eigenen Volk.

Von Angst hatte auch Gauck gesprochen. Was kein Zufall ist. “Keine Gewalt!” kann man wirklich erst rufen, wenn man weiß, was richtige Angst ist. Wer nicht dabei war, weiß nicht wirklich, was es heißt, wenn die Angst tatsächlich nicht mit Gewalt beantwortet wird.

Joachim Gaucks Rede in der LTM-Kurzfassung: “Ich bin glücklich hier zu sein. Ich habe etwas mitgebracht. Erinnerungen! Meine schönsten Erinnerungen verbinde ich mit 1989, damals in Rostock. Und diese Erinnerungen verbinden mich in unendlicher Dankbarkeit mit jenen, die zuvor in Leipzig auf die Straße gegangen sind. Wir haben die Angst überwunden, wir dürfen uns freuen und der jungen Generation davon erzählen. Wir wissen, wieviel wir unseren europäischen Nachbarländern verdanken – all denen, die im Osten den Mut hatten, aufzustehen. Deshalb bin ich glücklich, dass die Präsidenten dieser Staaten heute mit uns sind. Gemeinsam bauen wir Europa. Wir sind das Volk! Das dürfen wir nie vergessen, auch heute nicht. Das ist nicht nur ein Feiertag für Leipzig, für Sachsen, sondern für ganz Europa. Wir alle haben einander viel zu schenken: Kraft, Fantasie, die Fähigkeit füreinander da zu sein. Wir sind das Volk! Wir sind die Bürger! Wir sind zuständig!”

Den letzten Teil hatte er noch besonders hervorgehoben. Weil das heute, 25 Jahre danach, gern vergessen wird. Nicht nur vom Volk. Deswegen sollten wir unbedingt daran denken und es heute leben: “Wir sind das Volk! Wir sind die Bürger! Wir sind zuständig!”

Mit dem polnischen Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski war ein Urgestein der Solidarnosc nach Leipzig gekommen und konnte auch die polnische Sicht auf die Revolution in der DDR mitbringen. Eine Sicht, die ebenso von Dankbarkeit geprägt war, denn die Vorgänge in der DDR halfen, auch in Polen die zähen, zehn Jahre währenen Kämpfe endlich zum Erfolg zu bringen. Und er kannte die Angst der DDR-Bürger gut. “Bei Ihnen standen die Truppen der Sowjetarmee. Und bei uns standen sie auch – bis an die Weichsel.”

Milos Zeman, Präsident der Tschechischen Republik, erinnerte sich an seinen schönsten Moment während der Samtenen Revolution. “Als 750.000 Prager auf dem Wenzelsplatz standen und mit ihren Schlüsseln klingelten, den Schlüsseln zur Zukunft. Sie glauben gar nicht, wie laut da mein eigenes Schlüsselklingeln in die Welt hinausklang.”

Andrej Kiska, Präsident der Slowakischen Pepublik, machte es gleich wie Burkhard Jung: “Hallo Leipzig!”

Und János Áder aus Ungarn, gab sich ganz bescheiden. Man sage zwar, dass Ungarn den ersten Stein aus der Mauer gelöst habe. “Aber die Mauer haben Sie ganz allein umgestoßen”, sagte er.

Und als es dann ans große Lichteranzünden und Kerzenaufstellen ging, war ein Name einfach nicht gefallen: der von Michail Gorbatschow. Wer die Geschichte nicht kennt, konnte durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Amerikaner die Veränderungen in Osteuropa in Gang gebracht hatten. Was sie nicht haben. Sie haben nur, als der Zeitpunkt gekommen war, nüchterne Realpolitik gemacht. Genauso wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.

Das ist eine andere Ebene als jene, die die Demonstrierenden 1989 erlebten. Deren Sicht sollte eigentlich durch die diversen künstlerischen Installationen auf dem Ring in den Fokus rücken. Aber diesmal wurde recht deutlich, wie schwer es ist, eine 25 Jahre zurückliegende hochbrisante Situation mit künstlerischen Mitteln wieder zu inszenieren. Die meisten Installationen kommen gerade deshalb, weil sich die Künstler sehr intensiv mit ihrem Motiv beschäftigt haben, ohne Erklärungen nicht aus. Wer sein Heft mit den Erklärungen nicht dabei hatte, stand zwar davor – ließ sich von Ulrich Polsters Soundschleuse kurz in den Bann ziehen, freute sich am Ballett der Leipziger Oper, das vor dem Hauptbahnhof immer wieder “PAX 2014” tanzte, schaute kurz mal an die Fassade von Victor’s Residence Hotel, wo die Bilder heutiger Leipziger Überwachungskameras zu sehen waren (!Mediengruppe Bitnik). Aber das Leipziger Lichtfest ist irgendwie immer mehr auf dem Weg, zu einer Art Biennale der Video- und Performance-Kunst zu werden.

Man erfreut sich am Umgang der Künstler mit Material, das da und dort das nun sehr vertraute aus den Herbsttagen 1989 ist – aus jeder Ecke schallte es: “Wir sind das Volk!” Nur der Stadtfunk war verstummt. Umso deutlicher war die Performance der Leipziger Gruppe “westfernsehen” zu hören und die mehr als berechtigte Frage: “Seid ihr ein glückliches Volk? Ihr seid doch glücklich?” Die Performance mitten auf dem Georgiring changierte zwischen dem 9. Oktober 1989 und dem 9. Oktober 2014. Die Frage ist mehr als berechtigt, auch weil sie daran erinnert, dass die Deutschen nicht allein sind und dass ihr eigenes Glücklichsein keinen Sinn macht, wenn anderswo ganze Länder im Chaos versinken.

Es reicht nicht, Jahr um Jahr die Gewaltlosigkeit zu feiern oder das Glück, in Freiheit, Frieden und Demokratie zu leben. Da gilt genau das, was Joachim Gauck – mit Beifall – gesagt hat: Dass der alte Schlachtruf “Wir sind das Volk!” auch heute noch gilt und mit Taten erfüllt werden muss. Und so waren denn auch ein paar Transparente im sonst transparentlosen Zug zu sehen, die daran erinnerten, dass Vieles, was 1989 gefordert wurde, auch heute nicht eingelöst ist.

Wenn man sich einlullen lässt, wird irgendwann alles zu Helmut Genscher. Und die Amerikaner haben Glasnost und Perestroika angefangen.

Vielleicht waren auch 200.001 Leipziger da. Denn eine Leipzigerin lief herum und sammelte leergetrunkene Pfandflaschen ein. Das Leipzig von heute, wie es lebt und durchschlägt. Wer ist das Volk?

www.lichtfest.leipziger-freiheit.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar