Am kommenden Wochenende geht's mal wieder rund im Leipziger Gewandhaus: Der 3. Deutsche Patientenkongress Depression für Betroffene und Angehörige findet statt. Was die Stiftung Deutsche Depressionshilfe gemeinsam mit der Deutschen Depressions Liga da auf die Beine stellt, ist eine feine Sache - in diesem Jahr erstmals sogar über zwei Tage, mit einem Schirmherrn, der kein geringerer ist als Harald Schmidt. Ja, DER Harald Schmidt.

Ich bin geneigt, alles wunderbar zu finden, was jemandem auf dem Weg aus der Depression eine Stütze sein kann. Kreuzten eindeutig zu viele liebenswerte Menschen meinen Weg, deren Leben von dieser garstigen Krankheit in großer Regelmäßigkeit überschattet wird. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Die Depression ist eine der besonders perfiden Terroreinheiten unter den Krankheiten.

Vor allem vor dem Hintergrund, dass eine Veranstaltung wie der Patientenkongress Begegnungen ermöglicht, die Auftrieb und Hoffnung zu Folge haben, nicht nur für die Patienten selbst, sondern auch für deren Familien und Freunde, kann man gar nicht genug für solcherlei Initiativen plädieren.

Nur für einen ist es immer schlecht, wenn allzu viel Rat zu Selbsthilfe bei Krankheiten geboten wird – für die Pharmaindustrie. Deshalb ist es wichtig, dass man auf diesem Industriezweige wach bleibt und sich in tüchtigster Manier weitere Krankheiten erschließt. Schade, dass meine Großmutter nicht mehr ist:

Sie wäre der Liebling der Pharmaindustrie samt Gerätemedizin gewesen.

Mag es nämlich für manche Menschen als Ausdruck eines gesunden Lebenswillens gelten, wenn sie beim Gedanken an eine Darmspiegelung nicht freudig in die Hände klatschen, so war meine Großmutter diesbezüglich aus ganz anderem Holz geschnitzt. Noch zu Kaiser Wilhelms Zeiten geboren, hörte sie seit dem Ersten Weltkrieg aufmerksam in sich hinein, tagtäglich über Herzfrequenz, Blutdruck und Cholesterinwerte wachend, jede Hautveränderung, die im Laufe einer über 90 Jahre reichenden Biographie hin und wieder vorkommen soll, argwöhnisch beobachtend. Ein einziges Mal hatte sie Glück gehabt. 1946 mal eine offene Tuberkulose – das war etwas Handfestes, damit konnte man noch Jahre später Eindruck schinden. Seitdem aber war sie zu ihrem Leidwesen kerngesund geblieben – so gesund, dass es sie fast krank machte.

In nachwendischen Jahren, als der Segen der Gerätemedizin über die DDR hereingebrochen war wie die Sintflut, war zumindest etwas Besserung in Sicht gewesen: Hatte Oma endlich etwas Verdächtiges festgestellt, das auf eine attraktive schwerwiegende Krankheit hinzuweisen vermochte, begann sie ihren charakterlich leicht labilen Hausarzt so lange zu bedrängen, bis sie sich mindestens ein großes Blutbild, eine kostenintensive Kernspintomographie oder eine spektakuläre Blasenspiegelung ertrotzt hatte. Eine vierteljährliche Endoskopie zu erhaschen, gehörte zu ihren leichtesten Übungen. Beinahe hatte sie es – damals immerhin schon 85-jährig – zu einer Fruchtwasseruntersuchung gebracht.

Wenn ein Hausarztbesuch jedoch einmal nicht zum optimalen Ergebnis einer Krankenhauseinweisung mit umfassender Diagnostik geführt hatte, erbat sie sich gewöhnlich wenigstens die Verschreibung eines neuen Medikaments zur Bannung des von ihr gerade favorisierten Krankheitsbildes.

Auch Arzneien, auf die sie zufällig stieß, wurden ohne Umschweife eingenommen wie einst Österreich von Hitler und auf Tauglichkeit beurteilt. Dies gipfelte eines Tages gar darin, dass sie bei einem ausgiebigen Herumstöber-Happening die Pillenpackung meiner Schwester ausfindig gemacht und vorsichtshalber eine umfassende Verkostung vorgenommen hatte. Der Erfolg gab ihr recht – eine weitere Schwangerschaft war bis zu ihrem Lebensende erfolgreich vereitelt worden.

Obwohl Omas abendlicher Medikamenten-Cocktail zur Intoxikation eines Elefanten gereicht hätte, zeigte sie sich selbst vorsichtig geäußerten Einwänden verschlossen gegenüber, ob nicht wenigstens die Tabletten zur Behandlung einer erektilen Dysfunktion überflüssig seien.

Kurzum: Wenn alle Prophylaxe so ernst nähmen wie einst meine fidele Großmutter, kein Pharmavertreter müsste mehr mit Sorgenfalten und einem Mittelklassewagen herumfahren.

Ein Segen ist es zu nennen, dass Oma das Internet noch nicht als pralle Fundgrube weiterer Modekrankheiten für sich entdeckt hatte.

Was stünde ihr dort nicht alles an Innovativem offen?

Zum Beispiel SENIOREN-ADHS: Die eigens von der Pharmaindustrie für Kinder erfundene Krankheit, die damit auch die Jüngsten ernst zu nehmen wagte und sie als mündige Konsumenten in den Medikamentenmarkt integrierte, holt erstmals auch Rentner mit ins Boot. Eine gehörige Dosis Ritalin schadet weder dem Finden des Nachhausewegs zum richtigen Altersheim noch Omas Konzentration beim Kreuzworträtseln.

Auch das CHRONISCHE MÜDIGKEITSSYNDROM stellt ein seit langem unterschätztes medizinisches Phänomen dar. Wer nach sieben Mojitos und einer kleinen Flasche Jamaika-Rum am Vorabend am nächsten Morgen schlecht aus dem Bett kommt, sollte das nicht leichtfertig auf das bisschen Alkohol schieben. Treten außerdem Symptome wie Gähnen oder Schweregefühl in den Augenlidern auf und bleiben unbehandelt, gehört man vermutlich bald zu jenen untherapierbaren Patienten, die manchmal sogar einschlafen.

Große Unkenntnis in der Bevölkerung herrscht außerdem über die gute medikamentöse Behandelbarkeit der PRÄ-KOITALEN ZEPHALGIE – einer Krankheit, die häufiger Frauen befällt und die besser bekannt ist als akut auftretender Kopfschmerz direkt vor dem Geschlechtsverkehr. Ehegatten, deren Frauen bereits vor dem ersten Beischlaf-Interesse-Bekundungsversuch demonstrativ zur Aspirinschachtel greifen, gelten als indirekt mitbetroffen und sind deshalb ebenfalls behandlungsbedürftig. Da gilt es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Im Grunde aber sollte sich jeder ehrlichen Herzens eingestehen, am eigenen Leibe reichlich Potential für allerlei Therapierbedürftigkeit zu besitzen. Mit einiger Leichtigkeit ließe sich bei vielen sicher eine nachträglich festgestellte Dyskalkulie (Rechenschwäche) ausmachen, die es dringend zu behandeln gilt. Wer 20 Jahre nach dem Abi immer noch Schwierigkeiten mit dem bisschen Integralrechnung hat, wird später wohl kaum seinen Mindestlohn nachrechnen können.

Auch jene Unbelehrbaren, die immer wieder in orthographischen Zweifelsfällen den Duden zu Rate ziehen, obwohl die dritte Rechtschreibreform innerhalb des letzten Jahrzehnts die Schreibung doch nun wirklich auf das Simpelste simplifiziert hat, sollten sich ernsthaft fragen, ob sie nicht an einer besonders gefährlichen Form von LRS – einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leiden.

In vielerlei Hinsicht ist es traurig, dass Oma seit ein paar Jahren nicht mehr ist. Gerne hätte ich mit ihr zum Beispiel über meine Schwäche für obenrum gut gelungene Menschen diskutiert. Das geht so weit, dass ich zuweilen sogar befürchte, sexuell veranlagt zu sein.

Oma hätte ganz sicher was gewusst. Und vom  Patientenkongress wäre sie quietschvergnügt nach Hause gekommen.

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