Klick. Klick. Klick. Mehrere Millionen Mal. So ging es dem EDEKA-Werbespot mit dem einsamen Opi, der mit List das eigene Ableben inszenieren muss, damit ihn die Mischpoke zu Weihnachten dann doch noch aufsucht. Alle haben wir ihn angesehen, den Spot. Mindestens einmal. Und mindestens eine Träne im Knopfloch verdrückt. Das ist auch kein Wunder. Der Spot ist perfekt: die Menschen darin schön, Opa immerhin noch appetitlich, und die Musik, die pfeift direkt ins Epizentrum unserer Emotionen. Geil gemacht. Wenn nicht sogar supergeil.

Supergeil waren natürlich auch die Kommentare, mit denen (wie könnte es anderes sein in der schönen, spontanen Internetwelt?) sofort eine Diskussion losbrach: Darf man das? Ist EDEKA hier nicht zu weit gegangen? Ist es nicht pietätlos, so einen zielorientierten Gefühlstornado zusammenzubasteln, nur um eine Marke erneut ins Gespräch zu bringen?

Einem Großteil der Gucker reichte auch schon die Selbstoffenbarung: “Ich heule gerade wie ein Wasserfall. EDEKA, was tut ihr mir an?”, schreibt da eine Kommentatorin, während es andere ein wenig nüchterner zusammenfassen: Das Video sei “tränenrührend.” Weitere Betroffene wiederum glänzen schon mit kognitiven Transferleistungen und geben zu, dass der Film die Realität abbilde und uns zeige, was wirklich wichtig sei im Leben.

Da allerdings möchte man abermals in Tränen ausbrechen. Die Werbeagentur Jung von Matt zeigt uns also im Jahr 2015, was wirklich wichtig ist im Leben. Aha. Trauriger kann es kaum noch werden. Wenn Werbung, der verhaltensauffällige trötende Herold der Wirtschaft, jetzt komplett die gesellschaftliche Werte-Erziehung übernommen hat, weil sie das einzige ist, was uns gefühlsmäßig noch erreicht, dann kommt das nichts weniger als einem kollektiven Hirn-Infarkt gleich.

Nichtsdestotrotz darf man sich natürlich von allem, was einem begegnet, an das Wichtige im Leben erinnern lassen. Insofern also auch von einem manipulativ perfekten Werbefilmchen. Wir dürfen uns nur nicht in den Kontroversen verheddern, die dieses nach sich zu ziehen scheint. Einerseits: Darf man mit solchen Inhalten Gewinne anzukurbeln versuchen? Andererseits: Müssten wir uns nicht wieder besser um unsere Alten kümmern?

Ersteres ist schnell abgehandelt: Na klar darf man das!

Werbung darf alles.

Darf sie doch längst. Wenn man mit AIDS-Patienten für BENNETTON und mit nackigen Extremitäten für Baumarktbedarf und Buntstifte werben darf, warum dann nicht mit dem Tod für Butter und Brösel für die Weihnachtsgans? Also.

Aber die Alten und wir und diese brave new world, das ist doch ein viel spannenderes Ding. Da hat doch EDEKA zur richtigen Zeit den richtigen Knopf gedrückt. Weihnachten sind wir verwundbarer als sonst, haben die Balkone vor den Herzen ein bisschen runtergeklappt, wie Kästner vielleicht sagen würde. Und fühlen uns natürlich auch ertappt. Weil das Gewissen eben gar nicht immer rein sein kann, wenn man den ganzen Zirkus mit der Arbeitswelt und der eigenen Familie, die nicht selten wahnwitzig fordernde Patchwork-Ausmaße angenommen hat, so mitmacht und Opa eben nicht nebenan wohnt, sondern in Castrop-Rauxel oder Villingen-Schwenningen. Wie soll das auch gehen? Für viele eine sich jährlich wiederholende Zerreißprobe.

Auch andere, nicht minder interessante Entwicklungen zeigen längst die Schwere der Misere. Das Wohlfühltelefon zum Beispiel, das die 67-jährige Elsbeth Rütten aus Bremen ins Leben gerufen hat. Seit zwei Jahren bietet sie mit einigen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen den Service für Einsame an: Im Abo kann man bei ihr Anrufe buchen, wöchentlich oder täglich. Je nach Bedarf. Viele erwachsene Kinder, die es im Alltag nicht mehr schaffen, die sich oft wiederholenden Narrationen der alternden Eltern anzuhören, nähmen das Angebot dankbar an.

Elsbeth Rütten ist eine patente Frau, die schon viel durchgesetzt hat für manch vernachlässigte Klientel der Gesellschaft. Dafür gebührt ihr größtmögliche Anerkennung. Und vermutlich noch sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Vor allem aber sollte man hier noch mal auf der richtigen Silbe betonen: Rütten ist NICHT schuld an dem Trend, der einem dann doch ein wenig Gänsehaut auf die Seele schmirgelt: Soll man mit Geld jetzt auch noch die simpelsten Dinge wie Gespräche und etwas Zuwendung für die allernächsten Verwandten wegdelegieren oder nicht?

Die physische Pflege, ja – die ist seit Ewigkeiten bereits im Altersheim oder bei mobilem Pflegepersonal gelandet. Das verzeihen wir uns noch, weil es tatsächlich vielleicht dem  realistisch Machbaren gleichkommt. Pflege alter Menschen ist ein Wahnsinns-Job. Körperlich anstrengend, oft unästhetisch in unserem Verständnis, aufreibend. Alles erledigt von einem fast geräuschlosen und unsichtbaren Pflegepersonal, das wir auch noch sehenden Auges unter Zeitdruck setzen lassen.

Jetzt jedoch lassen wir auch noch mothers little helper durch die Telefonleitung kommen.

Eine Eskalationsstufe?

Man verstehe mich nicht falsch: Alles was einem Menschen hilft, ist besser, als Missstände auf sich beruhen zu lassen. Selbstverständlich. Zudem das Wohlfühltelefon Elsbeth Rüttens keine perfide Abzocke zu sein scheint, sondern mit erschwinglichem Preis wohl eher einer Aufwandsentschädigung gleichkommt.

Trotzdem: Ob ich mal jemand telefonisch auf sie ansetzen solle, fragte ich interessehalber meine Mutter am Wochenende. Sie tippte nur mit dem Finger an ihre Stirn. Tja. Ganz so einfach ist es eben nicht. Man kann den Gedanken des Delegierens von Zwischenmenschlichem ja mal weiterdenken und sich zum Beispiel vorstellen, man sei bis unter die Haarwurzel verliebt und der Angebetete schickte einem aus Zeitmangel immer einen Ersatzmann fürs romantische Candle-Light-Dinner. Das kann unter Umständen in die Hose gehen. Fragt sich dann nur, in wessen.

Vielleicht bringt man sich ja auch um etwas Wichtiges, schlechtesten Falls um Erfahrungen, die man nicht wiederholen können wird? Weil der Mensch dann weg ist, mit dem man sie teilen dürfte?

So betrachtet ist der EDEKA-Werbespot nur ein weiterer Aufrüttler, der durchaus Gutes bewirken kann: Dass vielleicht der eine oder andere doch mal wieder zum Hörer greift, um sich ein paar Vorwürfe oder Geschichten oder Klagen von Mutti anzuhören. Oder zu Weihnachten doch zu Opa fährt.

Und das nur, weil einzig die Gans tot ist.

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