Ein Jahr danach. Ein Jahr nach dem Moment, in dem Deutschland wirklich internationale Verantwortung übernommen hat, übernehmen musste – nicht militärisch, sondern humanitär. Da wurden keine Soldaten oder Raketen in ein Kriegsgebiet entsandt. Da wurden Menschen aufgenommen, die vor Kriegen, vor Armut, vor religiöser Intoleranz flüchteten. Ein Jahr, nachdem die weltweite Flüchtlingsbewegung nicht mehr vor Mitteleuropa gestoppt werden konnte, sondern Deutschland erreichte. Ein Jahr danach begehen wir – kaum merkbar – den 1. September, den Weltfriedens- oder Antikriegstag: Vor 77 Jahren begann der 2. Weltkrieg mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen – ein horrendes Verbrechen.

Doch davon war gestern wenig die Rede, eigentlich gar nicht. Dabei wäre es angebracht, gerade heute darüber zu sprechen, wie schnell gesellschaftliche Konflikte in kriegerische ausarten können – und nur eines erreichen: Gewalt, Zerstörung, unendliches Leid, Tod. Wir merken es an den brutalen Hassausbrüchen im Netz, an den hundertfachen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte und Fremde, an Brandanschlägen auf Politiker, an der Demokratieverachtung, an der neuen Lust auf autokratische Systeme, an der Leichtfertigkeit, Konflikte militärisch „lösen“ zu wollen, an der Bewunderung derer, die keine Skrupel haben, mit Waffengewalt ihre Interessen zu verfolgen und dabei über Leichenberge zu gehen, an der berechnenden Kälte, mit der eine Frauke Petry der Selbstbewaffnung das Wort redet und ein Björn Höcke von „Völkermord“ an Deutschland spricht – wie dicht wir dran sind an der Bereitschaft, wieder offensiv Kriege zu führen und diese zu schüren.

Ob das der tiefe Grund dafür ist, dass an diesem 1. September null mahnende Erinnerung stattgefunden hat?

Ob wir uns schon innerlich von dem Friedensprojekt Europa verabschiedet haben und die Zug-um-Zug-Machtergreifung der Neu-Nationalisten in Europa als gegeben hinnehmen?

Übertrieben? Ich hoffe es. Ich hoffe, dass das vergangene Jahr nicht unter dem Schlagwort „Kontrollverlust des Staates“ und als Beginn einer Demokratieentfremdung in die Geschichte eingehen wird. Ich hoffe, dass das Gerede der vergangenen Tage, Wochen, Monate, als sei vor einem Jahr das Chaos über Deutschland hereingebrochen, als habe der Staat versagt, endlich verstummt. Ja, 2015 sind ca. eine Million Geflüchtete zu uns gestoßen. Sie haben kurzfristig die Bürokratie ins Wanken gebracht – nicht überall, aber an einigen Orten. Doch das wurde und wird an vielen Orten ausgeglichen durch ein grandioses ehrenamtliches Engagement von unzähligen Bürgerinnen und Bürgern – bis heute.

Sie haben sich nicht anstecken lassen von denen, die schon im September 2015 anfingen, Deutschland in die Unregierbarkeit hineinzureden. Sie haben den Kampf für die Grundwerte unserer Verfassung, für die Demokratie, für ein Friedliches Zusammenleben aufgenommen – und sie werden auch die europäische Einigung nicht auf dem Altar des Neu-Nationalismus opfern.

Doch noch etwas ist in den vergangenen Monaten geschehen – etwas, was auch ohne Flüchtlinge aufgebrochen wäre

Zu viele Menschen sind gelangweilt von der Demokratie und meinen, dass der Frieden in Europa eine Selbstverständlichkeit sei oder kein Dauerzustand bleiben müsse. Die Bereitschaft, mit tödlicher Gewalt die eigene kleine heile Welt zu schützen, ist gefährlich gewachsen – und gleichzeitig die Relativierung der Nazi-Verbrechen. Diese Menschen wollen, dass alles funktioniert – zu ihrem Vorteil. Sie wollen möglichst nicht behelligt werden mit den Problemen der Gesellschaft – vor allem nicht mit denen, die von außen auf uns eindringen. Dabei ist es fast unerheblich, ob es sich um eine Verordnung aus Brüssel oder um Asylbewerber aus Nordafrika handelt. Darum haben sich gefälligst Politiker zu kümmern. Aber wehe, wenn sie das Bedrohliche nicht abwehren können; wehe, wenn es nicht gelingt, ganz schnell eine Lösung im Sinne des „besorgten“ Bürgers zu finden.

Dann ist der Beweis gegeben, dass der „Parteienstaat“ nicht funktioniert und Politiker doch nichts anderes sind als „Volksverräter“. Dann ist die Zeit da für neue Mauern, Stacheldraht und Schießbefehl – Ausdruck nationaler Abwehr.

Nun sehen sich vor allem in Ostdeutschland viele Bürgerinnen und Bürger in ihrem Bedürfnis nach Ruhe, nach Heimat, nach nationaler Identität durch die Geflüchteten massiv gestört und empfinden dies gleichzeitig als bedrohliche Missachtung ihrer Existenz. Nach der mühsam ertragenen westdeutschen Okkupation erfolgt in ihren Augen die Invasion durch die Geflüchteten, eine islamische, also religiös-verhasste dazu. Da bekommt der Ruf „Wir sind das Volk“ einen merkwürdig militanten Klang: Wir, das Volk, aber eben nur „wir“ in Tröglitz, Heidenau, Freital, Parchim – wir, die wir hier schon immer leben, „wir“, die wir die anderen nicht wollen, nicht die Wessis, nicht die Assis, nicht die Moslems.

Da stehen wir vor einer großen Aufgabe, die nach dem Wahlsonntag am 4. September 2016 nicht geringer wird: der Kampf um die Demokratie, der Kampf um die europäische Einigung, der Kampf um den Frieden, der Kampf um gesellschaftliche Vielfalt – nicht gegen die, die mit uns das Leben teilen, sondern mit all denen, die eines nie mehr wollen: Krieg.

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Da wir mittlerweile ja beinahe täglich an allen möglichen Ecken für Frieden “kämpfen” müssen, fällt so ein spezielles Datum vielleicht grad weniger auf. In ruhigen Zeiten reicht da eine jährliche Erinnerung vielleicht, heute sind wir ja praktisch im “Dauerkriegsabwehr”-Modus.

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