KommentarAnis Amri ist tot. Der Verbleib der Pistole, mit der der polnische Lkw-Fahrer in Berlin getötet wurde, ist auch geklärt. Amri hatte sie dabei, als er in der Nacht zum Freitag am Bahnhof der Stadt Sesto San Giovanni im Großraum Mailand auf zwei Polizisten traf und die Waffe zückte. Was nicht nur die Frage aufwirft: Woher hatte er die Waffe? Sondern auch noch einen ganzen Berg anderer Fragen.

Ich versuche ja, wenn solche Dinge geschehen, ein bisschen wie Kommissar Van Veeteren zu denken, oder wie Kommissar Maigret. Es läuft auf Dasselbe hinaus. Ist aber nicht ganz einfach, schon gar nicht so einfach, wie es die Kollegen der überschwänglichen Medien wieder darstellen und vorantreiben. Sie merken nicht einmal, wie sie in ihrem Herdentrieb erst den Druck aufbauen, der „die Politik“ zum Handeln zwingt – und weil alles in Panik, Druck und Eile passiert, auch zu blödsinnigen Entscheidungen führt. Die gar nichts klären oder bessern. Aber wieder ein Stück Bosheit, Verachtung und verkniffene Knallerbsenstrauch-Mentalität in Gesetzesform verankern. Dauerhaft. Weil nachher kein Beteiligter den Hintern in der Hose dazu hat, den Mumpitz wieder aufzuheben.

Und ich erinnere ja ungern daran: Aber seit dem 11. September 2001 haben wir viele Mumpitzrunden hinter uns.

Und die Lage ist nicht sicherer und nicht besser geworden.

Sondern unsicherer und schlimmer.

Und bekloppter.

Eigentlich kann ich diese ganzen bärbeißigen Typen in ihrer ministeriellen Ahnungslosigkeit nicht mehr sehen. Da geh ich lieber mit ein paar besoffenen Hooligans von meinem Lieblingsfußballklub einen saufen. Da ist nicht unbedingt mehr Verstand bei der Sache, aber mehr Menschlichkeit. Ab und zu so ein verblüffender Ausdruck in erschrockenen Augen, weil sich zumindest Atze und Schorsch sehr gut vorstellen können, wie das wäre, wenn man mit ihnen so umginge.

„Haste auch wieder Recht, Leo, aber …“

Nein, bei ihnen kommt dann kein bekloppter Spruch über Flüchtlinge, eher so ein: „Aber, die Terroristen …“

Das sitzt in den Köpfen. 15 Jahre Dauerthema auf allen Kanälen, das zeigt Wirkung. So produziert man nicht nur Panik. Sondern auch politische Voraussetzungen.

Da kommt dann meistens noch ein „Aber …“

Aber da muss nur jeder auf die Wahlergebnisse all dieser rechtsradikalen Maulhelden schauen. Und die AfD rechne ich mittlerweile dazu. Wer hat diese Narren eigentlich in unseren Stadtrat gewählt? Diese offensiven Menschenverächter, die Menschen, die in Leipzig Zuflucht suchen, am liebsten wieder sofort in die Wüste schicken würden?

Was dieser Anschlag, den Anis Amri in Berlin verübt hat, scheinbar bestätigt. Scheinbar.

Aber so würde weder Van Veeteren denken noch Maigret. Sie würden auch nicht vorwurfsvoll in die Runde fragen, wer da nun wieder mal versagt hat. Kann man das Abschottungsnetz denn nicht noch enger und noch perfekter machen? Und noch schneller und gnadenloser abschieben wie es unsere Leipziger Möchtegern-Alternativen fordern? Originalton unserer neuen Rechtsradikalen im Stadtrat: „Die Stadt könnte einmal mit der Zeit gehen. Sie könnte zur besseren Vorbereitung von Sammelabschiebungen, eine Erfassungsstelle für abzuschiebende Personen einrichten.“ (Das mit der Kommasetzung ist nicht so einfach. Vielleicht üben sie ja noch.)

Da landet man, wenn man sich auf den Wahnsinn einlässt und von der Dummheit treiben lässt.

Aber wo landet man, wenn man es nicht tut?

Bei Anis Amri natürlich, der nun nicht mehr antworten kann. Bei seiner Familie, die sich zu Recht darüber wundert, wie sich Amri nach vier Jahren in einem europäischen Gefängnis verwandelt und radikalisiert hat. Nicht in Tunesien, wo er nur mit kleinen Straftaten auffiel. Zum Terroristen wurde er erst in einem italienischen Gefängnis. Und das ist nicht das erste Mal, dass sich ein Attentäter in einem unserer Gefängnisse radikalisiert hat.

Auch wenn es Italien ist – es sind unsere, unsere europäischen Gefängnisse, die manchmal einfach nur als Abladeplatz für all die Leute benutzt werden, mit denen wir uns nicht weiter beschäftigen wollen.

Das ist auch eine Art Wegwerfmentalität. Neben vielen anderen Wegwerfmentalitäten. Unter anderem der oben zitierten der Leipziger AfD. Unsere braven Bürger merken meist gar nicht mehr, wie konsequent sie sich als gut abgerichtete Konsumenten verhalten. Zum Konsumieren gehört nun einmal auch das schnelle Entwerten und Fortwerfen – von Dingen. Und längst auch Menschen.

Man sollte Menschen nicht wegwerfen. Das ist meine ganz persönliche Meinung.

Aber dass unsere Gesellschaften so voller Frust sind, hat genau damit zu tun: dass eine Menge Menschen das Gefühl haben, entsorgt zu sein, einfach weggeworfen, nicht mehr gebraucht zu werden. Das ist die Wunde, an der wir kranken. Allesamt. Denn auch wenn Viele glauben, Arbeit und Geld seien das Wichtigste im Leben, es stimmt nicht. Es geht auch nicht um das heile Familien-Bild, das heuer wieder über die Bildschirme flimmert, so zuckersüß und falsch, dass heute Abend wieder viele kleine und große Dramen passieren werden. Ausgelöst durch einen kleinen Misston, ein winziges Unbehagen, irgendwas.

Denn tatsächlich wissen wir es alle: Wir fühlen uns nur geliebt, wenn wir auch merken, dass wir gebraucht werden. Wir alle. Wir Gläubigen und Ungläubigen, Ruhlosen und Friedlichen, wir Fleißigen und wir Faulen, wir Migranten und Nestflüchtler, wir Heimischen und wir Trostlosen, wir Einsamen und wir Umschlungenen, wir Großen und wir Kleinen.

Sorry, ja, ich hab hier keine Kanzel, auf die ich klettern kann. Aber manchmal muss man es laut sagen, wie falsch unser Zug fährt seit 15 Jahren, angefeuert von einer Bande Dummköpfe, die unbedingt meint, sie müsste mit allen Mitteln einen Krieg gegen ein Monstrum namens „Terror“ führen.

Obwohl die Leute, die damit zu tun haben, genau wissen, dass es tatsächlich ein Krieg gegen Menschen ist, gegen Zivilisten, Familien, Frauen, Kindern, Bauern und Lehrer, gegen Ärzte und Helfer, und gegen Dörfer und Städte, in denen einmal Menschen leben konnten. Menschen, von denen viele verzweifeln, noch mehr auf der Flucht sind und ein paar in der Sackgasse landen, in der wir alle landen, wenn wir wütend und verzweifelt sind.

Dann suchen wir uns einen Schuldigen. Einen Sündenbock.

Nichts lässt sich so leicht produzieren wie ein Feindbild.

Unsere Welt ist voller Feindbilder. Überall werden sie von wilden Narren produziert und durch die Straßen getragen.

Bis einer schreit. Oder schießt. Oder Amok läuft.

Oder sich einem fanatischen Prediger anschließt, der eine einfache Erklärung für das alles hat.

So einem Prediger muss Amri begegnet sein auf seiner Odyssee durch Europa. Einer, der ihm damit einen Sinn gegeben hat, das Gefühl, zu irgendetwas doch gebraucht zu werden. In diesem Fall: als Soldat einer finsteren Sache, als Kämpfer für eine Flagge in schwarz.

Das ist die Stelle, an der ich genauso nachdenklich werde wie Van Veeteren. Denn: Wie weiter? Denn das ist ja eindeutig eine Sackgasse, ein Weg ohne Happy End, völlig sinnlos. Zumindest von außen betrachtet. Inwendig hat es ja einen Sinn. Da fühlt sich ein junger, eh schon ratloser Mann, auf einmal wieder nützlich.

Schönes Wort, nicht wahr?

Usability, mal ein bisschen weiter gedacht. Denn wir sind ja so: Wir wägen alles, wirklich alles in unserer Welt mittlerweile nach seiner Brauchbarkeit und Nützlichkeit. Was nicht „nützlich“ ist, hat keinen Wert. Egal, ob es eine Wiese, ein Tümpel, ein Baum oder das Meer ist, geistige Arbeit, demokratische Kärrnerarbeit oder eben – junge Männer aus Nordafrika. Es können auch junge Männer aus der Pariser Banlieue sein oder aus Freital oder aus Bottrop sein.

Eigentlich müssten sie es merken, weil sie alle in derselben Leere leben, irgendwie alle nicht mehr gebraucht.

(Während die Knallchargen im Silicon Valley derzeit alles tun, auch noch den letzten Malocher mit einem Roboter überflüssig zu machen. Idiotie kann manchmal auch einen verdammt hohen IQ haben.)

Nur gebe ich mich nicht ganz mit Van Veeterens Pessimismus zufrieden, der nicht mehr viel Hoffnung hat, dass sich diese Nützlichkeits-Gesellschaft, die ihre „überflüssigen“ Menschen irgendwo entsorgt, wo sie keiner mehr sehen soll, irgendwann ändert.

Denn es ist wie mit dem Müll, den wir in Flüsse und Meere kippen: Irgendwo kommt das alles wieder zurück. Wie ein Bumerang. Nur meistens aus völlig unerwarteter Richtung. Es sieht nur auf den ersten Blick irrational aus. Auch das, was diese jungen Männer tun, die mit scheinbar blinder Gewalt möglichst viele Menschen in unserer scheinbar so heilen Gesellschaft umbringen. Die Botschaft ist ja völlig schräg: Noch mehr Gewalt! Noch mehr Gewalt schreit nach noch mehr Gewalt!

Das bedient die Beißreflexe der von Panik gejagten Politiker.

Und sie werden noch ein Stück rücksichtsloser, wohl wissend, dass sie die Spirale damit immer weiter drehen.

Deswegen setz ich mich jetzt an diesem Abend lieber hin. Mit einem besinnlichen Rotwein, ohne Zeugs, das ich übermorgen sowieso wieder wegschmeiße. Und ich denke an Anis Amri, von dem ich mir sicher bin, dass er sich irgendwann auf seiner langen kurzen Reise so überflüssig gefühlt haben muss wie ein Spielzeug, das keiner haben will, wie ein Mensch, den niemand braucht. Der sucht und nicht findet. Und doch das Gefühl nie loswird, dass man auf dieser Welt doch gebraucht werden muss. Von irgendwem. Für irgendwas.

Und dann ist da nichts.

Das ist der Moment, der Van Veeteren immer so verzweifeln lässt.

Maigret spendiert dann meistens ein Bier und ein Sandwich. Und stochert in seinem Öfchen und brummt etwas Unverständliches. Denn das, was er verstanden hat, spielt vor Gericht keine Rolle. Aber im Leben der armseligen Gestalten, die in seinem Büro landen und manchmal schon froh sind, wenn einer ihnen das Gefühl gibt, dass sie mehr wert sind als nur 5 Centimes.

Na ja, und solange wir denken, dass Menschen nichts wert sind, nur weil sie irgendwie falsch sind in unserer Welt, solange wird das so weitergehen. Leider.

Ich denke, wir sollten uns besinnen. Nicht nur heute. Aber heute wäre ein Tag zum Anfangen. Und morgen einer zum Nicht-Aufhören damit.

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Es gibt 2 Kommentare

Muss ich da noch erklären, warum ich bei euch mit Abstand am liebsten lese?
Ich wünsch euch wundervollen Wortkünstlern von Herzen ein frohes Fest und ganz viel Glück und Frieden.
Und mir wünsche ich, dass ihr niemals aufhört zu schreiben.

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