„Und der war wirklich mal Geschichtslehrer?“ fragte mich zu Beginn dieses Jahres ein Schüler meines Geschichtskurses der 12. Klasse. Thema des Unterrichts war „Chefideologe“ Björn Höcke, der von den Jugendlichen auch unter berühmter Vornamensverwechslung mal belächelt, mal mit Kopfschütteln registriert wurde. Das war im Januar 2017, als am 17. des Monats der thüringische Landesvorsitzende im Dresdner Ballhaus Watzke seine weniger ruhmreiche, dafür berüchtigte Rede zur „deutschen Erinnerungskultur“ hielt.

Da forderte Höcke im salbungsvollen Grundschullehrerduktus eine „erinnerungspolitische Wende um 180°“, was den Umgang mit den NS-Untaten des 2. Weltkrieges, den rassistisch und politisch motivierten Massenmord betraf. Eine andere Erinnerung also an das unzählige Leid, welches im Namen einer „volkgemeinschaftlichen“ Idee im Namen Deutschlands angerichtet wurde. AfD-Parteifreund Gauland insistierte zuletzt ebenfalls in relativierender Art und Weise, das seien doch tapfere Männer gewesen, an den Erschießungswänden, den Stacheldrahtzäunen, den Gaskammern. So schließt sich der Kreis.

Dass sich jetzt ein „Zentrum für politische Schönheit“ mit dem korrekt Inkorrekten der AfD beschäftigte und dem Thüringer Landesvorsitzenden ein Mahnmal gewissermaßen vor die Nase, oder an seinen geschichtspolitischen Wendehals setzte, ist nicht nur mutig, sondern auch konsequent.

Die AfD und ihre Parteigranden sind Gegenstand des Geschichtsunterrichts?

Sollen in der Schule nicht prüfungsrelevante Kompetenzen, Wissen, Fertig- und Fähigkeiten vermittelt werden? So ganz neutral und ohne zu „überwältigen“, zu „belehren“, zu „indoktrinieren“? Da ist doch kein Platz für Tagespolitik, oder? Also ein bisschen schon, so einige Kenntnisse zum parlamentarischen System, zur EU und zum Brexit, leistungskontrollabrufbar und durchaus „bulimielernfähig“. Fertig. Für alles Weitere gibt’s aller paar Wochen die „Anstalt“, „Extra 3“ und „Youtube“-Videos. Da können sich die „Politikfreaks“ näher informieren und austoben.

Die Schule und die Lehrer haben doch politisch neutral zu bleiben, schrie mir letzte Woche ein wirrer Rechtspopulist, der behauptete, keiner zu sein, in einer Diskussionsrunde zu und mich an.

Höcke ist ein „Wendehals“

Er fordert die Neubewertung der deutschen Geschichte. Da sollen wir also Stolz entwickeln? Mit der „Selbstgeißelung“ aufhören? Uns die „Denkmäler der Schande“ in unseren Städten schenken? Sparen am „falschen Geschichtsbewusstsein“, wie er es nennt. Wie nennen wir denn dann künftighin – zum Beispiel mit einem AfD-„Kultusminister“ in zwei Jahren in Sachsen – den Angriff Deutschlands auf seine Nachbarn? Wird dann aus dem deutschen Überfall auf Polen 1939 vielleicht eine „Korrektur des Schanddiktats von Versailles“?

Wie bewerten wir dann die vollständige Zerstörung Warschaus nach dem fehlgeschlagenen Aufstand der polnischen „Armija Krajowa“ (der „Heimatarmee“) im Frühherbst 1944? Als „Strafgericht für Partisanen und Freischärler“?

Und wie halten wir es mit dem unsäglichen Leid, was den jüdischen Mitbürgern in- und außerhalb Deutschlands zugefügt wurde, die plötzlich nicht mehr als Menschen galten? Als „überfällige Reinigung des nationalen Volkskörpers“? Das ist Antisemitismus pur.

Übrigens, als ein Bundestagspräsident in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vorm (west-)deutschen Parlament davon schwafelte, dass „die Juden sich ja auch in der Weimarer Republik auch eine Rolle angemaßt hatten, die ihnen nicht zustand …“, war er postwendend seine politische Reputation und sein Amt los. Der Mann hieß Philipp Jenninger.

Björn Höcke trifft heute mit seinem Geschichtsrevisionismus nicht nur auf taube oder vor allem kritische Ohren, die Zeiten haben sich geändert.

Und Höcke ist nicht allein. Er wird von rumbrüllenden Mitbürgern, welche ihn verteidigen und wie in nazidiktatorischen Zeiten Künstler und Journalisten angreifen, unterstützt, getragen in seiner Haltung. Ihm wird beigesprungen, von „Bolschewikenpack, was man mit der Schlinge einfangen muss“ geredet, er wird bestärkt, da ja die mahnenden Stelen vor seinem Haus „einen Eingriff in seine Privatsphäre“ darstellen. Der Oberton dazu lautet: wo ist denn der „demokratische Respekt“ gegenüber einer „Wir-sind-das-Volk!“-Partei? Deren „Meinungen“ müsse man doch ernst nehmen? Kopfschütteln.

Der Boden wurde neu bereitet

Einen Teil des Volkes erreichte die amtierende Bundes- und Landespolitik wohl auch nicht mehr. Oder hat sich längst selbst dem Primat „Wirtschaft über allem“ derart untergeordnet, dass Solidarität auch politisch keine Rolle mehr spielte, sie stand einfach nicht zur Wahl. Spätestens nach der Jahrtausendwende waren jedenfalls viele nur noch „Funktionsteilchen“ im marktwirtschaftlichen Getriebe, Politiker und Wähler, was sich erst im Nicht- und dann im Rechtswählen bemerkbar machte.

Der Glaube an den angeblichen Segnungen gesellschaftlicher Partizipation durch Konsum plus vorkauender Deutungshoheit zerfaserte nicht erst seit gestern. Da helfen jetzt auch keine „Demokratiepädagogik“- Kurse oder auf die Schnelle einberufene Debattenformate mehr.

Wenn man in einer „Individualgesellschaft“ der Konkurrenz nicht begriffen hat, dass jeder Mann, jede Frau, jeder Jugendliche, ja, jedes Kind eine eigene Verantwortung gegenüber seinem Leben, aber auch Ehrfurcht und Demut gegenüber jedem anderen Leben hat oder entwickeln muss, hat man das schon länger verfestigt.

Ist ja auch nicht leicht zu verstehen – doch ein Rückblick hilft: Zunächst zurückhaltende NSDAP-Sympathisanten der 20er Jahre berichteten später, wie ihnen durch die einhämmernde Nazi-Propaganda der Glaube an die Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens Stück für Stück abhandenkam, sie das fremde, u. a. das „jüdische“ Leben zu hassen begannen. Auch eine „Wende“.

Was lernen wir für heute daraus?

Und nun die Aufregung ob dieser „Mahnmalsnötigung“ vorm Hause Höcke. Sie ist Teil einer schon jahrzehntelang andauernden „Wende“ in der Geschichtsbetrachtung. Zunächst stürzten wir uns in den 80er und 90ern als junge Lehrer auf die „Bewusstseinserweiterung“ in der ideologiegeschichtlichen Betrachtung des 20. Jahrhunderts. Kritisierten den staatlich verordneten Antifaschismus, schrieben als dumme Jungs ein „Z“ vor das letzte Substantiv auf dem Reclamcover von Bruno Apitz´ Buchenwaldroman „Nackt unter Wölfen“.

Provozierten die Lehrer, indem wir heimlich antistalinistische Bücher lasen und aus ihnen zitierten. Erkannten nicht die ersten Zeichen der Relativierung der „Extremismen“, verloren den Charakter der Einmaligkeit der nazistischen und den der Wehrmachtsverbrechen etwas aus den Augen. Plötzlich war jede regierende Macht in der Geschichte irgendwie auch „böse“. Stasi war die Gestapo und ein KZ war wie ein Jugendwerkhof in der DDR. Man unterschied nicht mehr zwischen politischer Intention, ideologischer und vor allem verbrecherischer Dimension. Verglich Zahlen und machte selbst in apologetischer Art und Weise Politik damit.

Es gab wieder, wie in der DDR „wertvollere“ Tote, wichtigeres und unwichtigeres Leid. Nur nicht bei uns, die Vergangenheit war schlimm, ja. Nun lasst sie ruhen. Wo gibt´s die Alternative zur „alternativlosen“ Politik?

Der Boden war längst bereitet, auf dem der rechtspopulistische Mist gedieh. Es ist derselbe Boden, der jetzt von „Verletzung der persönlichen Integrität“ faselt, wenn das „Zentrum für politische Schönheit“ ein Erinnern an das Erinnern aggressiv-humanistisch, medial aufmerksamkeitsstark versucht. Und eben nicht mit Origami-Faltern in „Gutmenschenmanier“ daherkommt.

Gehört nicht zum Geschichtsbewusstsein, dass man aus der Geschichte lernt? Nicht nur aus den Untaten, sondern auch aus den Unterlassungssünden? Oder ist das „linksradikale Propaganda“?

Wer dies nicht rechtzeitig tut und sich von den „Wendehälsen“ und Relativierern, die wieder gegen Minderheiten hetzen, Stück für Stück die Geschichte umdefinieren, nicht eindeutig distanziert, zeigt sich aus Dummheit oder Ignoranz lernunfähig. Irgendwann – wenn dem verbrecherischen Unsinn, der ungestraft verbreitet werden darf, nicht von mutigen und einfallsreichen Antifaschisten aktiv widersprochen wird – hat man dann kein Recht und keine Möglichkeit mehr dazu.

So brutal einfach ist das.

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Es gibt 3 Kommentare

Man fragt sich auch, welches Geschichtsbewußtsein der ehemalige Geschichtslehrer haben muss, wenn er eine Anregung zum Nachdenken als “terroristischen” Akt auffasst. Oder schaltet er bei “deutscher” Geschichte gleich auf Stammhirn um?

Der erwähnte “Buchenwaldroman” von Bruno Apitz heißt übrigens “Nackt unter Wölfen”.

Es ist erschreckend. Die Reaktionen auf das ZPS (die ja die eigentliche Kunst des Zentrums sind, die wissen wirklich, welche Knöpfe man drücken muss, um die wahren Gesichter hervorzubringen) scheinen so manchen Politiker und Polizisten nicht zu stören. Ja, genau deshalb ist diese Aktion wirklich wichtig. Genauso wichtig wie Texte wie dieser, über den ich jetzt schon den ganzen Abend nachdenke.

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