Manchmal treffen Gedanken so aufeinander. Gerade in jenen Momenten, da man vor einer Tastatur sitzt und versucht, sich auf ein Thema zu konzentrieren. Was nicht ganz einfach ist in dieser Arbeit am Leipziger Nachrichtenwesen, das kann ich Ihnen sagen. Es quäkt und lärmt und drängt. Und alles ist wichtig. Und die Lust ist groß, einfach mal einen Tag lang nichts zu schreiben. Nichts zu analysieren. Nichts zu senden. Einen Tag Stille.

Den es nicht geben wird. Schon gar nicht im Kollektiv. Denn auf allen anderen Kanälen wird ja weiter gelärmt, wird der Druck auf dem Kessel hochgehalten, wird unterhalten, abgelenkt, genervt, geängstigt, wird Stimung gemacht und um Aufmerksamkeit gebuhlt.

Was die Präsenz von Lärm betrifft, spielt es keine Rolle, ob die L-IZ mal einen Tag Urlaub macht oder mal eine Woche geschlossen zum Muschelsammeln an die Ostsee fährt und dann einfach schöne Bilder von Möwen, Sand und Strandhafer sendet. Und natürlich von den liebevoll gepflegten Erinnerungsstätten der Dichter und Maler, die schon vor 100 Jahren aus dem Lärm geflüchtet sind zu den Windflüchtern und rauschenden Wollen.

Der Gedanke, der einem dabei kommt, und der eigentlich die Umkehrung eines anderen Gedankens ist: Kann es sein, dass der Lärm der modernen Medien gar nicht deshalb entsteht, weil die Medien verdammt dazu sind, permanent um Aufmerksamkeit zu buhlen? Dass etwas ganz Anderes dahinter agiert, etwas, was systematisch dafür sorgt, dass die Menschen gar nicht mehr zum Nachdenken kommen sollen?

Denn wenn Menschen zum Nachdenken kommen, dann hören sie auf, anderer Leute Worte nachzuplappern und anderer Leute Weltsichten und Ansichten und Kleingeld an Schläue – so wie diese seltsame Anmache für Idioten, die derzeit im Leipziger Straßenbahn-TV läuft: “Wie schlau sind wir Leipziger?”

Wie doof muss man sein, um sich so ein dämliches Rätselraten auszudenken?

Aber bevor ich hier auf die Penetranz eingehe, mit der sich diese sichtlich arrogante Blödheit in alle unsere Lebensbereiche hineinschleimt, kehre ich zum Gedanken zurück: Kann es sein, dass all die modernen disruptiven Medien keinen anderen Zweck haben, als alle Menschen möglichst immerfort abzulenken und vom Selberdenken abzubringen? Denn wenn permanent Zirkus ist, kommt ja keiner zum Nachdenken.

Fortwährend wird die Aufmerksamkeit mit scheinbar wichtigen Schlagzeilen abgelenkt, von einem clownesken Präsidenten in den USA, in der Türkei, in Ungarn zum Beispiel – es ist ja kein Zufall, dass überall die Clowns auf einmal die Wahlen gewinnen und Leute es toll finden, wenn sie sich nachts selbst als böser Clown verkleiden und die Menschen erschrecken. Wir haben ja alle nur ein Gehirn. Und wenn das immerfort mit bösen Clowns gefüllt ist, kommt es nicht zu dem, wozu es eigentlich da ist: zum Ordnen, Sortieren, Abwägen. Zum Sich-selbst-Erkennen. (“Gnothi seauton.”)

Und da kam dann dieser Satz von “Ellen” in ihrem Kommentar zu Rolands Meys kurzer Rezension zu Susanne und Johannes Wallmanns Buch “Kunst – eine Tochter der Freiheit”: “Wenn man da jetzt mal den Streit über ‘Gottes’ Vorhandensein und Wesensart herausnimmt, bleibt die Forderung einer ethischen Bildung des reflektierenden Bewusstseins also der individuellen menschlichen ‘Bewertungsinstanz’. Nicht nur Intelligenz sondern vor allem Empathie ausbilden. – Die Frage ist dann, wer legt diese ‘Ethik’ fest?”.

Da ist man mittendrin in dem, was ich oben angerissen habe. Denn es geht dabei immer um die Frage: Wann kommen wir dazu, über uns selbst nachzudenken?

Da ist man dann ziemlich bald bei Montaigne und seinem Skeptizismus, aus dem er die ersten Grundlagen des modernen Toleranzdenkens entwickelte – eher beiläufig. Und das noch im 16. Jahrhundert. Was etwa in diesem Satz steckt: “Dem eingebildeten und wahnhaften, vom Menschen zu Unrecht in Anspruch genommenen Vorrecht aber, die Wahrheit festzulegen, zu reglementieren und zu schulmeistern, hat Pyrrhon ehrlichen Herzens entsagt.”

Es gibt niemanden, der diese Ethik festlegt. Und doch …

…und doch haben wir sie. Es war ja nicht nur Montaigne, der sich in seinen Essays daran abarbeitete. Mit Montaigne ging das ja erst los. Und mit Descartes und Pascal ging das weiter und war dann mit Lessing, Kant, Diderot und d’Alembert in voller Blüte. Womit wir ja bei dem heutigen Geschimpfe unbelesener Zeitgenossen über die “Aufklärung” wären, die sie mit Technik und Technikgläubigkeit verwechseln. Was erklärlich ist, wenn man sich diese Zeitgenossen als Mittreibende im Strom des allgegenwärtigen Geschreis vorstellt. Da hört man natürlich nur noch die, die am lautesten schreien.

Und kommt nicht zum Lesen, wie ich ja immer wieder zu hören bekomme.

Keine Zeit. Der Fernseher, das Smartphone, diese Riesenflut an Nachrichten …

Stimmt.

Wer in dieser Flut mitschwimmt, hat keinen freien Moment mehr, sein Gehirn zu reinigen von all diesem Geschrei und Müll. Nicht mit Alkohol oder Pillen, wie das Viele versuchen. Nein. Mit Ausschalten. Siehe oben. All diese Wichtigtuer einfach abklemmen, Stecker raus, Batterie raus, Stille.

Und wieder zulassen, dass das eigene Gehirn wieder Gelegenheit bekommt, aufzuräumen und sich zu sortieren.

Unsere Ethik hat niemand festgelegt. Sie ist das Ergebnis ruhigen, gewissenhaften Nachdenkens.

Manchmal passiert es mir, da streite ich mich mit meinem eigenen Advocatus diaboli: Und wenn die 10 Gebote nun tatsächlich doch von “Gott” kommen? Und die Bergpredigt?

Die Bergpredigt?

War da nicht was? Ja. War es: Wenn man das ganze schöne Neue Testament seiner Märchen und Legenden entkleidet, stößt man auf ein ethisches Grundverständnis, das man eigentlich schon kennt, wenn man sich mit den griechischen Stoikern beschäftigt hat. Die große Neuerung des Jesus Christus war eine Modernisierung der alten jüdischen Ethik durch den Gedankenreichtum der griechischen Philosophie. Es waren die griechischen Philosophen, die als erste gründlich darüber nachgedacht haben, wie man als Mensch gut und richtig leben kann, sollte, müsste … in allen Spielarten.

Sie hatten Glück: Es gab noch kein Fernsehen, kein Radio, kein Twitter, keine Smartphones. Briefe waren so lange unterwegs, dass man sich zwischendurch Gedanken machen konnte, ob man nicht doch Manches etwas zu scharf formuliert hatte. Und sie waren kostbar. Da ließ man sich mit den Antworten Zeit und durchdachte, was man sagen wollte – prüfte sich selbst: Sehe ich das wirklich so? Oder werde ich gedacht? Auch das so eine Frage, die sich die Griechen stellten. Erkenne ich wirklich, was richtig ist? Oder sehe ich nur den Schatten an der Höhlenwand? Die meisten griechischen Philosophen waren Zweifler und Skeptiker. Keine Gläubigen.

Und das war bei den Aufklärern 2.000 Jahre später nicht anders.

Nur: Liest die niemand mehr. Haben ja alle keine Zeit. Deswegen können sich gut bezahlte Dummköpfe hinstellen und über “die Aufklärung” herziehen, ohne ein einziges Buch gelesen zu haben.

Und so ist es auch nicht wirklich Allgemeinwissen, dass unsere Ethik das Ergebnis langen Abwägens und Nachdenkens ist. Niemand hat uns unsere Ethik gegeben. Wir haben sie uns errungen und erkämpft. Oder besser: Jene Männer und Frauen haben es getan, die immer wieder die bohrenden Fragen nach dem richtigen Mensch-Sein gestellt haben. Und die nach dem: Was macht uns zum Menschen? Und was macht das Leben lebenswert?

Darauf gibt es viele Antworten

Aber in der Ethik münden die sinnvollen Antworten allesamt in eine Ethik der Toleranz. Erst die Toleranz eröffnet uns ein menschliches und endlich von Aggression freies Miteinander.

Und das Erstaunliche: Erst die Toleranz ermöglicht uns auch Neugier, Liebe, Vertrauen und Erkennen – ein Heraustreten aus den Maskeraden und Zwängen, die uns das Leben abschnüren. Oder mit Kant: “aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit”.

So gesehen ist das permanente Unterhaltungsgetrommel auch ein Versuch, die Menschen von ihrem eigenen Erkennen und Mündigwerden abzulenken. Wer so niemals bei sich ist, der denkt über das eigene Tun nicht mehr nach. Und wird damit verfügbar. Bis zum Schlafengehen und darüber hinaus. Dazu sind ja alle diese Geräte da, die tatsächlich die meisten Leute laufen lassen, bis ihnen die Augen zufallen.

Und die Leute wundern sich auch hinterher nicht mal, dass sie immer wütender, zorniger, ruheloser, unkonzentrierter werden, immer aggressiver in einem Alltag, in dem das ganze Leben nur noch wie ein Hauen und Stechen aussieht. Immer unkontrollierbarer, weil scheinbar alles immer chaotischer wird.

Der Eindruck trügt …

Aber ich befürchte, diese Leute werden das hier nicht lesen. Bestenfalls haben sie die Überschrift geschafft und waren dann schon überfordert und getrieben, irgendwo ihre Meinung hinzurattern. Denn diese Schwemme aus völlig sinnlosen Nachrichten sorgt natürlich für permanente Überforderung.

Ich bin für Ausschalten. Jeden Tag. All diese Geräte ausschalten, die Informationssuppe kappen. Lieber Tee trinken, Kuchen backen, Häkeln, mit Freunden Wein trinken oder drei Bücher lesen, Musik hören oder einen Brief schreiben. Es gibt so viele Möglichkeiten, der permanenten Inanspruchnahme zu entkommen, wenn man nur wagt, all diese Knöpfe auszuschalten. Und sich das Recht zu nehmen zum Besinnen. Zum Zu-sich-Finden, Nach-Denken, Über-Denken, Bei-sich-sein.

Vielleicht ist es das Recht, das wir uns jetzt wieder erkämpfen müssen gegen all die Zumutungen der Clowns: Das Recht, bei uns sein zu dürfen und nicht immer außer uns sein zu müssen.

Die Serie “Nachdenken über …”

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Lieber Herr Julke, was für ein Geschenk, diese stillen Gedanken über stilles Denken in lauten Zeiten! Danke! Und doch: sollen die Geräusche, das ständige weiße Rauschen und Brüllen um unsere Aufmerksamkeit uns nicht vielleicht noch von viel mehr als dem Denken abhalten, nämlich davon zu fühlen? Zu fühlen, dass die Antwort auf die wirklich existentielle Frage – warum lebe ich, welchen Sinn bin ich bereit und in der Lage, meinem Leben zu geben -, die jeder ganz allein am Ende sich wird fragen (und womöglich auch beantworten) müssen, dass also diese Frage, der wir uns im Alltag eben nicht stellen wollen (und vor allem nicht stellen sollen: sonst würden wir völlig unbrauchbar als Verbraucher dieser, unserer einen einzigen Welt), und deren Beantwortung alles in Frage stellen wird, was wir je getan und/oder unterlassen haben, dass die Antwort auf diese eine Frage ein (lebens-)langer Prozess ist und Einiges an Aufwendungen, nämlich eines ganzen Lebens bedarf. Wenn wir damit anfangen würden, wären uns unsere tatsächlichen Beziehungen (wieder) wichtiger, auch wenn sie aufwendiger sind, als die Zahl digitaler, maschinell generierter Follower, dann würde wir, vermutlich, vieles anders gemacht haben (wollen), als wir uns statt dessen zu tun verleiten ließen. Und dann würde dieses System in sich selbst zusammenfallen als das fatale Kartenhaus, das es ist: Stell Dir vor, es ist Konsum/Wachstum/Twitter und keiner geht hin. Auch Denken ist eine Möglichkeit, das Fühlen zu vermeiden, den Schmerz, der entsteht, wenn wir uns all dem stellen, was (früher) nicht stattgefunden hat und heute auch so sleten stattfindet, obwohl wir ein Anrecht darauf gehabt hätten und haben, geliebt, gut behandelt, gesehen zu werden, und die Lust, sich zu entwickeln, die Person zu entdecken und zu werden, die man ist, ganz einmalig, und als solche geachtet, respektiert, geliebt und wahr-genommen zu werden von leibhaftigen Menschen, die man bis zur Stille und völligem Loslassen umarmen kann. Und an der Ostsee den Wind auf der Haut zu spüren, den Geschmack von Salz auf den Lippen, das Gefühl von zerrinnendem Sand in den Händen. Und die Trauer darüber, wie viele, mir nahe und ferne Menschen es gibt, die, wie auch ich so oft, derart kostbare Momente dessen, was Glück ist, ungenutzt lassen.

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