Die Schriftstellerin Juli Zeh wird in letzter Zeit immer öfter als jene Stimme der Intellektuellen zitiert, die sich noch traut, klug und pointiert ihre Gedanken zur Gegenwart zu äußern. Sie ist sozusagen das sichtbare Kontra zu dem intellektuellen Gejammer, die heutigen Intellektuellen würden sich nicht mehr zu Wort melden. Aber es geht wohl um etwas anderes: Sie kommen nicht mehr zu Wort. Und wir hören nicht mehr zu.

Das gehört alles zusammen – die Redaktionen, die keinen Platz und keinen Sinn mehr haben für die Äußerungen jener klugen Menschen, die sich tatsächlich noch aufmerksam und nachdenklich mit den Problemen unserer Zeit beschäftigten, die eben nicht getrieben sind von einem Aufmerksamkeitsdruck, der den meisten Zeitgenossen kaum noch Zeit lässt, sich selbst intensiver mit den Gründen für das heutige Unbehagen zu beschäftigen.

Und natürlich gehört auch eine Gesellschaft dazu, die vor lauter Gier nach Sensationen keine Aufmerksamkeit mehr übrig hat. Nicht mal für die eigenen Probleme und die Frage, warum gerade die so gut gepäppelte „Mitte“, das wohlhabende Bürgertum, heute so austickt und verbal Amok läuft.

In einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ geht Juli Zeh nicht nur auf die Gründe für den ostdeutschen Rechtsradikalismus und die Gewalt auf den Straßen ein. Wobei sie das Thema natürlich nicht völlig aufdröselt. Es hat viel mit Behördenversagen zu tun und mit der Hilflosigkeit der ostdeutschen Polizei und Justiz ab 1990.

Eben noch waren beide Teil eines autoritären Regimes, in dem von ganz oben bestimmt wurde, was als Recht zu gelten habe – und nun auf einmal sollten sie eine Demokratie tatsächlich schützen. Aber wie, wenn man demokratischen Anstand nie geübt hatte?

Ergebnis war eine überall sichtbare Hilflosigkeit, eine unübersehbare Konturlosigkeit und eine seltsame Affinität ausgerechnet zu rechtem Gedankengut.

Aber das ist nur ein Strang in Juli Zehs Interview. Der andere ist wichtiger, hat damit zu tun und erklärt zum Teil, warum heute so viele Bürger der „Mitte“ zögern, zaudern, nach rechts tendieren – und was das mit den alten Selbstverständlichkeiten zu tun hat. Gerade im Osten. Denn die Gesellschaft der DDR war in vielerlei Weise eine geschlossene Gesellschaft. Übrigens auch eine, die zwei Dinge über alles stellte: Sicherheit und Ordnung.

Genau das, womit z. B. Sachsens CDU seit 28 Jahren versucht, ihrer Politik (die eigentlich keine ist) Kontur zu geben. Denn das sitzt tief in den Ostdeutschen. Das haben sie so gelernt: Einordnung, Unterordnung, klare Regeln, drastische Strafen für Vergehen am „Volkseigentum“ …

Das alles hat Juli Zeh zwar nicht gesagt. Aber es gehört – als ganz konkreter ostdeutscher Aspekt – dazu, wenn Juli Zeh versucht zu erklären, warum so viele Menschen heute so ratlos sind, sich enorm unter Druck fühlen und geradezu irre werden beim Versuch, sich selbst zu optimieren und möglichst viel Freiheit zu leben. Oder das, was sie dafür halten.

Juli Zeh sieht da das große Experiment der Befreiung von alten Zwängen, das im Westen mit dem Jahr 1968 in Verbindung gebracht wird.

„Die Grundidee war, den Menschen von Zwängen und übergeordneten Mustern zu befreien, in die er hineingepresst wird. Sei es die Religion, die patriarchale Familie, der hierarchische Arbeitgeber. Erst mal ein schöner Gedanke. Nur, was tun mit dieser individuellen Freiheit? Aha, Selbstverwirklichung. Diesen Raum muss man dann auch füllen. Dass das mit enorm viel Druck verbunden ist, haben viele nicht bedacht. Die Chance wird zum Imperativ: Du musst deine Freiheit nutzen, du musst gut sein, glücklich sein“, so Juli Zeh.

Die auch aus persönlichem Erleben erzählen kann, wie schnell das in Überforderung ausartet und in echte Krankheitserscheinungen, mit denen sich heute viele herumschlagen: Burnout, Depressionen …

Sie sieht das für unsere gesamte Gesellschaft so. Und das ist wichtig, dass das auch einmal so gesagt wird. Denn die Erscheinungen gibt es genauso im Westen. Was so entsteht, ist eine Gesellschaft von Perfektionisten, die enorm viel Energie in den Versuch stecken, dem Bild von absoluter Freiheit und absolutem Erfolg zu genügen, das überall propagiert wird. Und die dabei kaum noch Zeit und Kraft haben, um sich um sich selbst zu kümmern und das, was ihnen im Leben Halt gibt.

Was Menschen spätestens erfahren, wenn es sie gesundheitlich aus den Schuhen haut. Dann merken sie, dass es ohne eine verlässliche Unterstützung nicht geht. Und da wird es mau. Da haben sich gerade im Osten alle Parameter verschlechtert: Es hat ganze Familien zerrissen, komplette Jahrgänge junger Leute sind weggegangen, Schulen, Krankenhäuser, Gemeindeämter, Arztpraxen wurden geschlossen. In den ländlichen Regionen des Ostens ist längst zu besichtigen, wie Dörfer und Kleinstädte veröden – und damit auch die sozialen Strukturen verschwinden, die Menschen Halt geben.

Und damit auch Strukturen der Sicherheit.

Die radikale Umkrempelung der Wirtschaft und der Verlust von Anerkennung und Sicherheit im Beruf kommen dazu. Der Arbeitsplatz war für Ostdeutsche auch immer sozialer Vernetzungsraum. Er hat auch vieles ersetzt, was andernorts etwa Kirchen, Vereine, sogar „Volksparteien“ geleistet haben. Die ostdeutschen Parteiverbände sind denkbar schwach – und bilden damit auch nicht mehr die Grundstimmung der Wahlbürger ab. Auch so ein DDR-Erbe.

Aber Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping hat recht, wenn sie jetzt die Menschen über die Umbrüche der 1990er Jahre reden lässt. Aber: Es geht nicht nur um die Treuhand. Es geht um den Verlust fast aller Sicherheiten.

Ohne dass daneben eine neue Stärke gewachsen wäre. Der moderne Individualismus kann das nicht ersetzen.

Sagt auch Juli Zeh – etwa mit dieser Aussage: „Wenn ich Ostdeutschland betrachte, sehe ich das Problem viel eher darin, dass es Rückenwind aus einem bürgerlichen Milieu gibt. Und an der Stelle habe ich keine Lust, diese Abgehängten-These zu akzeptieren, weil die nach Rechtfertigung klingt. Nach dem Motto, wir sind ja selber Opfer.“

Ja. Was denn nun? Doch keine Opfer?

Natürlich nicht.

Nur gelernt haben es die meisten Ostdeutschen nicht wirklich, wie man mit so einem Umbruch umgeht. Und wie man die Frage richtig stellt: Wer ist für all das eigentlich verantwortlich? Die da oben, die Politiker, die Elite, wie es die rechtsradikalen Scharfmacher nun allen einreden, die nach einem Sündenbock suchen?

Das klingt nach einer großen Verschwörung. Gegen die man dann mit radikalen Forderungen putschen muss.

Nur: Wo ist die Lösung?

Sollte man nicht erst einmal darüber reden, was dieser umfassende Verlust von Sicherheiten wirklich bedeutet? Und wo Menschen eigentlich den Sinn und das Vertrauen in ihrem Leben finden?

„Die Arbeitslosen, die ich kenne, leiden am meisten nicht an wirtschaftlicher Armut, sondern an Schuldgefühlen: dem Eindruck, nicht mehr zur Gesellschaft zu gehören. Auch das ist symptomatisch für unsere Zeit“, sagt Juli Zeh.

Das ist nicht nur ostdeutsch – aber typisch.

Man merkt, dass sie als Autorin mehr Zeit darauf verwendet, die Ursachen für unsere heutige Verstörung zu analysieren, als all die Getriebenen, die auf der Bühne von Politik, Expertentum und Medien von Auftritt zu Auftritt hecheln.

Menschen brauchen Sinn in ihrem Leben, Sicherheit und das Gefühl, dass sie den sozialen Strukturen, in denen sie leben, vertrauen können.

Den letzten Satz kann ich ruhig Juli Zeh überlassen, weil sie nun einmal die richtige Frage stellt: „Doch wofür lohnt es sich noch zu kämpfen, wenn Menschen, denen es richtig gutgeht, an dem Punkt ankommen, kollektiv depressiv zu werden? Wir müssen es schaffen, ein Thema wie Arbeit wieder mehr in unsere Politik reinzubringen. Nicht nur Krisenverwaltung zu machen oder uns jahrelang über ein faktisch nicht sehr existentes Flüchtlingsproblem zu unterhalten. Wer sind wir, wie fühlen wir uns dabei, wo wollen wir hin? Ich glaube, das tut Gesellschaften gut, wenn die Menschen gemeinsam das Gefühl haben, in eine Richtung zu gehen.“

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar