Seit nunmehr über einem Jahr bestimmt die Corona-Pandemie zu großen Teilen unser Leben. Homeoffice, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Kinderbetreuung – für viele stieg der Stresspegel in den letzten Monaten enorm. Hinzu kommen Existenzängste, gerade in den Branchen, die seit mehreren Monaten nahezu stillgelegt wurden. Themen, über die diskutiert wurde und wird. Ein großes Dunkelfeld ist jedoch noch immer das der häuslichen Gewalt.

Langsam aber sicher rückte ein Aspekt der Pandemiefolgen vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit: Bereits im Frühjahr 2020, als Deutschland in den ersten Lockdown ging, wurden die Stimmen laut, die darauf hinwiesen, dass durch die Pandemie auch die Situation in den privaten Haushalten brenzliger werden könnte.

Häusliche oder familiäre Gewalt ist kein neues Phänomen, doch es gibt Anhaltspunkte, dass die aktuelle Situation als Katalysator dient und für den Anstieg der Fälle gewalttätiger Übergriffe in den eigenen vier Wänden sorgt.

Menschenrechtsorganisationen sprechen von der sogenannten „Schattenpandemie“. Gemeint ist, dass sich bereits bestehende Probleme, wie Fälle häuslicher Gewalt, im Schatten der Pandemie verschärfen könnten.Was hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist von jeher schwer einzuschätzen und vor allem „Privatsache“, weshalb es für die Forschung kein Leichtes ist, die Lage zu untersuchen und darzustellen.

Zumal allein die Definition von „häuslicher Gewalt“ komplex ist. „Oft wird häusliche Gewalt ausschließlich als die körperliche Gewalt zwischen (Ehe-)partner/-innen, zwischen Erwachsenen, verstanden“, erklärt Professorin Anja Pannewitz, die im Bereich der Sozialarbeitswissenschaften an der HTWK Leipzig forscht, auf LZ-Anfrage.

„Auch wird der Begriff im Alltag und in politischen Diskussionen oftmals beschränkt auf körperliche Gewalt.“ Ebenso würden aber sexualisierte, psychische und ökonomische Gewalt dazugehören, so Pannewitz.

So schwer, wie es ist, den Begriff und dessen Tragweite zu definieren, so schwer ist es, Gewalt im sozialen Nahraum zu erkennen. Sie passiert hauptsächlich im Verborgenen, bleibt im Dunkeln. In Zeiten der reduzierten Kontakte ist auch die Chance, dass Außenstehende die Zeichen erkennen, geringer. Etliche Fälle bleiben unentdeckt. Das war allerdings auch vor der Pandemie bereits der Fall.

Anja Pannewitz sieht einen unter mehreren Gründen dafür in unserer urbanisierten Welt und damit in der Anonymität des Zusammenlebens.  „Intimität, das heißt, sich in einer Partnerschaft sehr intensiv aufeinander zu beziehen, ist ein Phänomen modernisierter Gesellschaften “, so die Forscherin. Möglich, dass dadurch auch Fälle häuslicher Gewalt noch seltener entdeckt werden.

Viele Betroffene schrecken davor zurück, Anzeige zu erstatten und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dafür gibt es vielfältige Gründe – Angst, Scham, auch die Unsicherheit über die eigene Wahrnehmung und die Furcht vor fehlender Akzeptanz von außen.

„Häusliche Gewalt muss zivilgesellschaftlich wieder mehr politisiert werden“

Gesetze wie die Kinderrechte (1989) und die Istanbul-Konvention (2014) sorgten in den vergangenen Jahren dafür, dass Menschen mehr für das Thema sensibilisiert wurden. Auch in Zeiten von Corona rückte das Problem wieder mehr in den Fokus. Dennoch: „Häusliche Gewalt muss wieder mehr politisiert werden – nicht nur von der Bundespolitik, auch von der Zivilgesellschaft“, sagt Pannewitz.

Im Zuge der Frauenbewegung in den 70ern war das Thema zwar vermehrt präsent, nachdem Schutzeinrichtungen wie Frauenhäuser nach und nach institutionalisiert wurden, verschwand es allerdings auch wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Ein Schritt zur Sensibilisierung der Gesellschaft wäre auch, den Mangel an Plätzen in den Schutzeinrichtungen für Betroffene publik zu machen.

Laut des Dachverbandes Frauenhauskoordinierung (FHK) fehlen bundesweit mehr als 14.000 Plätze, um die Ziel-Vorgaben der Istanbul-Konvention zu erfüllen.

Dabei gilt es auch, vermeintliche gesellschaftliche Stereotypen aufzubrechen. „Die Fälle selbst kommen aus allen sozialen Schichten“, weiß die Wissenschaftlerin. Einen Ansatz sieht sie in der Arbeit mit Gruppen und Stadtteilnetzwerken. Ein Beispiel dafür ist das Projekt „StoP – Stadtteile ohne Partner/-innengewalt“, initiiert von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg.

Durch die Vermittlung und Diskussion von Identitätsbegriffen und kulturellen Leitvorstellungen in der Nachbarschaft wird ein Netzwerk geschaffen, das einander vertraut ist und nicht wegschaut. Inzwischen gibt es das Projekt auch in Städten wie Dresden, Braunschweig und Wien.

Die sächsische Hilfslandschaft sei hier generell allerdings nicht üppig ausgestattet, so Pannewitz. „Das ist letztlich auch eine Frage des Landes, wieviel da investiert wird, da sehe ich auch ganz viel politische Verantwortung.“

Generell wichtig sei es auch, noch mehr Wissen zu generieren. Der Forschung fehlten noch Grundlagen, um umfassende Erklärungen für die Hintergründe häuslicher Gewalt zu bestimmen. Oftmals richteten sich Untersuchungen – verständlicherweise – überwiegend an die Präventionsarbeit. Damit diese nachhaltiger geleistet werden kann, ist der Austausch mit Betroffenen notwendig.

Wie gehen Menschen, die häusliche Gewalt erleben, damit um? Wie kommt es dazu und welche Maßnahmen helfen tatsächlich? Wann spricht man von Gewalt? „Gewalt ist immer schon ein moralischer Begriff“, erklärt die Forscherin.

Eine Frage steht außerdem im Raum: Gehört Gewalt zu unserem Wesen dazu? So würde man in der Psychologie eher davon ausgehen, dass Aggressivität eine Emotion ist, die jeder oder jedem innewohnt – in unterschiedlich ausgeprägtem Maße.

Können wir Gewalt verlernen?

Über drei Faktoren, die als Ursachen häuslicher Gewalt eine Rolle spielen, ist man sich in der Wissenschaft sicher: Geschlechtsbezogene Einflüsse, Vorprägungen in der persönlichen Biografie sowie Stress.  Die Beengung von Raum kann zwar ebenso eine Rolle spielen, allein verantwortlich für gewaltsames Verhalten im häuslichen Umfeld ist sie jedoch nicht.

Raus aus der „Gefahrenzone“

Doch ungeachtet der Gründe und Ausprägungen – wichtig ist ein Netzwerk aus Hilfsangeboten und Anlaufstellen, um den Weg heraus aus dem Gewalt-Kreislauf ebnen zu können. Als ersten Schritt müssen Betroffene dafür unbedingt aus der „Gefahrenzone“ herausgelöst werden.

Zur Aufklärung möglicher Straftaten ist die Anzeige bei der Polizei notwendig. Vereine wie der Frauen für Frauen e.V. und die darin integrierte Koordinierungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt und Stalking (KIS) unterstützen in Leipzig Betroffene bei diesen Schritten sowie bei der selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens. Die Hilfsangebote richten sich auch an Freunde und Angehörige, die betroffenen Personen helfen wollen.

Eine Übersicht der Hilfseinrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt in Leipzig findet sich hier.

Sind Sie selbst oder eine Ihnen vertraute Person von häuslicher Gewalt betroffen? Hier können Sie anonym Kontakt aufnehmen: Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016; Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530.

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation der LEIPZIGER ZEITUNG mit CORRECTIV.LOCAL, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt.

CORRECTIV.LOCAL ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert.

Mehr Informationen im Internet unter www.correctiv.org/haeusliche-gewalt

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