Am 9. Oktober 2021 hielt Vitali Klitschko, ehemaliger Profiboxer und seit 2014 Oberbürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die jährliche Rede zur Demokratie anlässlich des Lichtfestes in der Leipziger Nikolaikirche. Ein Jahr danach ist alles anders: Sein Land verteidigt sich gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg von russischer Seite, während in Leipzig an jenen Tag vor 33 Jahren erinnert wird, als geschätzt 70.000 Menschen gegen das SED-Regime auf dem Ring unterwegs waren – wohlgemerkt ohne wissen zu können, ob die Regierenden vor brutaler, ja tödlicher Waffengewalt zurückschrecken würden. Dazu kam es zum Glück nicht.

All diese mutigen Leute verband, bei allen Unterschieden, der Zorn und Unmut über Missstände in der damaligen DDR, die dann in schier atemberaubendem Tempo zusammenbrach (Mauerfall am 9. November 1989) und mit der Deutschen Wiedervereinigung 1990 endgültig im Orkus der Geschichte verschwand. Wie wird das Gedenken im Schatten von Krieg und Krise diesmal ausehen? Die LZ begleitet das Lichtfest 2022 und den Abend heute im Liveticker.

Friedensgebet und Lichtspiele an drei Orten

Offizieller Auftakt des Programms ist ab 17 Uhr das traditionelle Friedensgebet in der Nikolaikirche. Die Rede zur Demokratie am gleichen Ort übernimmt ab dann Dr. Irina Scherbakowa. Die promovierte Germanistin ist Mitbegründerin und Mitarbeiterin der in Russland seit diesem Jahr verbotenen Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung, Menschenrechte und Soziale Fürsorge „MEMORIAL.“ Diese gehört zu den Trägerinnen des Friedensnobelpreises 2022. Im Frühjahr 2022 hat sie Moskau wegen der zunehmenden Bedrängnis der Opposition in Russland verlassen und lebt derzeit in Deutschland.

Außerdem sind heute bis 23 Uhr Lichtinstallationen den den drei Standorten Augususplatz, Burgplatz und Richard-Wagner-Platz geplant. Weitere Einzelveranstaltungen werden bis in die Nacht hinein angeboten: Diese finden auf dem Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale, in der Runden Ecke (ehemals Sitz der Bezirksverwaltung der DDR-Staatssicherheit) und im Schulmuseum statt. Unter anderem werden Originalaufnahmen der Montagsdemonstrationen von 1989 und die Dauerausstellung zur Stasi gezeigt.

Entwurf der geplanten Lichtinstallationen 2022. ©LTM GmbH
Entwurf der geplanten Lichtinstallationen 2022. ©LTM GmbH

Halle: Gedenken an rechtsterroristischen Anschlag

In Halle an der Saale wird heute zugleich an den rechtsterroristischen Anschlag von 2019 erinnert. Vor genau drei Jahren hatte ein damals 27-jähriger Neonazi versucht, die Synagoge an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, zu stürmen, um dort möglichst viele gläubige Juden zu töten. Als der perfide Plan misslang, erschoss der Rechtsextremist kaltblütig die 40 Jahre alte Passantin Jana L., die zufällig seinen Weg kreuzte, und den 20-Jährigen Lehrling Kevin S. in einem Dönerimbiss. Auf seiner Flucht verletzte und bedrohte der junge Mann zahlreiche weitere Menschen.

Der Täter, der sein Vorgehen live ins Internet übertrug, wurde gefasst und Ende 2020 unter anderem wegen zweifachen Mordes und vielfachen Mordversuchs zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Gericht stellte dabei eine besondere Schwere der Schuld fest.

Im Vorfeld des heutigen Gedenkens in Halle hatte es Kritik mehrerer zivilgesellschaftlicher Initiativen gegeben, weil zeitgleich auch der Marathon von Leipzig nach Halle stattfindet.

17:00 Uhr: Friedensgebet in der Nikolaikirche gestartet

Nikolai-Pfarrer Bernhard Stief sprach sein Grußwort zum Auftakt des Friedensgebets und würdigte dabei besonders die anwesenden ukrainischen Gäste, unter anderem die heutige Demokratie-Rednerin Dr. Irina Scherbakowa.

Pfarrer Bernhard Stief zum Auftakt des Friedensgebets in der Leipziger Nikolaikirche. Foto: LZ
Pfarrer Bernhard Stief zum Auftakt des Friedensgebets in der Leipziger Nikolaikirche. Foto: LZ

Anschließend sprach eine ukrainische Grundschullehrerin, die in Leipzig studiert hat: „Manchmal scheint es mir, dass der Albtaum nie enden wird“, beschreibt die Frau ihre Gefühle angesichts des Kriegs in der Ukraine. Sie sei den Deutschen sehr dankbar.

Die Nikolaikirche ist nach Auskunft unseres Reporters absolut voll und faktisch kein Platz mehr zu bekommen.

17:50 Uhr: „Egal, wie widerwärtig diese Aneignung von 1989 ist, wir müssen es ertragen“

Die evangelische Theologin und Pfarrerin der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, Kathrin Oxen (50), übt in ihrer Rede beim Friedensgebet heftige Kritik an rechtsoffenen und rechtsextremen Demonstranten, welche die derzeitige Energiekrise als Folge des Ukraine-Kriegs für ihre Zwecke zu kapern versuchen.

Sie schrecken nicht davor zurück, sich dabei (allein durch die Deklarierung als Montagsdemonstration) ernsthaft in eine Linie mit den Bürgerinnen und Bürgern von 1989 zu stellen, die seinerzeit mit gutem Grund gegen eine menschenverachtende Diktatur aufbegehrten: „Erst haben sie gegen den Islam demonstriert, dann gegen die Pandemie, den Klimawandel und jetzt gegen die Energiekrise. Sie sind gegen alles, auch gegen die Demokratie, die ihnen den Protest überhaupt ermöglicht. Und das alles auch noch an einem Montag. Egal, wie widerwärtig diese Aneignung von 1989 ist – wir müssen es ertragen.“ Wir alle, so fügte Theologin Kathrin Oxen hinzu, müssten gleichwohl dagegen laut werden.

18:00 Uhr: „Der Krieg hat jeden Ukrainer getroffen“

Etwa 9.000 Ukrainerinnen und Ukrainer leben derzeit in Leipzig, darunter viele Frauen mit Kindern, die vor dem russischen Angriffskrieg geflohen sind. Viele von ihnen hätten schwere Traumata in ihrer Heimat erlitten, versuchten aber dennoch, weiterzuleben. Das sagt die zuständige Koordinatorin des Projektes der psychologischen Hilfe für Ukrainer in Leipzig.

Die Betroffenen bräuchten viel Unterstützung, um sich im Land zurechtzufinden und vielleicht so etwas wie Lebensfreude zurückzugewinnen. Man sei der Stadt sehr dankbar und hoffe angesichts des fortgesetzten Krieges auf weitere Anteilnahme.

18:35 Uhr: reichlich Prominenz in der Nikolaikirche

In der Nikolaikirche wird neben Leipzigs OBM Burkhard Jung (64, SPD) auch dessen Parteifreund Carsten Schneider (47) gesichtet, seit 2021 Ostbeauftragter der Bundesregierung. Später fängt unsere Kamera noch weitere Prominenz ein: Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (47, CDU), Leipzigs Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke (Linke), die Ex-Landtagsabgeordnete in Sachsen Gisela Kallenbach (78, Grüne) und den Bundestagsabgeordneten Holger Mann (43, SPD). Außerdem anwesend: Falk Elstermann (naTo e.V. Leipzig) und der Leipziger DDR-Bürgerrechtler Uwe Schwabe.

18:45 Uhr: Rede zur Demokratie hat begonnen

Nun spricht die Germanistin, Historikerin und Menschenrechtsaktivistin Dr. Irina Scherbakowa in der Leipziger Nikolaikirche. Die gebürtige Moskauerin hat ihr Heimatland 2022 verlassen und lebt aktuell in der Bundesrepublik. Sie ist Mitbegründerin und Angehörige der renommierten Menschenrechtsorganisation MEMORIAL, die Ende 2021 durch die Gerichtsbarkeit Russlands verboten wurde.

Am 7. Oktober 2022 wurde der Organisation neben zwei weiteren Empfängern der diesjährige Friedensnobelpreis zuerkannt. Die 73-jährige Scherbakowa fiel immer wieder durch heftige Kritik an Russlands Langzeit-Machthaber Wladimir Putin (70) und der orthodoxen Kirche auf.

20:00 Uhr: Impressionen vom Nikolaikirchhof und Kretschmers Zurückhaltung

Inzwischen versammeln sich die Menschen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche und entzünden Teelichter. Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer hat sich mit einer öffentlichen Ansprache nach Beobachtung unseres Kollegen bisher zurückgehalten.

Wahrscheinlich ahnt der Ministerpräsident, dass er in Zeiten wie diesen gerade wegen seiner umstrittenen Positionen zu Russland und seiner Kritik an den Sanktionen gegen Moskau nicht überall ein gern gesehener Gast ist. Ende September hatte ihn sein alter Parteifreund Marco Wanderwitz (46) ungewöhnlich scharf attackiert.

Auch der deutsche Altbundespräsident Joachim Gauck (82, parteilos, amtierend 2012-2017) ließ es sich nicht nehmen, eine Kerze zu entzünden.

20:15 Uhr: Eindrücke vom Augustusplatz

Auf dem Augustusplatz wird derzeit die Großprojektion unter dem Motto „wir sehen uns frei“ präsentiert. Dahinter steht das polnische Kollektiv noks, bestehend aus den Künstlern Wera Morawiec und Robert Sochacki. Das Projekt basiert auf der Idee, dass das Leben jedes einzelnen Menschen von Bedeutung ist, wir aber auch immer Teil größerer Gemeinschaften sind.

Eine Großprojektion auf die Oper zeigt Augenpaare: keine beliebigen, sondern von Leipzigerinnen und Leipzigern. Sie symbolisieren die Ermutigung, überall kritisch hinzuschauen und mögliche Missstände zu benennen.

Weitere künstlerische Beiträge des Abends präsentieren sich heute in Form eines begehbaren Kaleidoskops mit dem Namen „Das ICH und das WIR“ auf dem Burgplatz, mit dem das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft dargestellt und hinterfragt wird (Künstlerin: Betty Mü, Anzing).

Auf dem Richard-Wagner-Platz schließlich können sich Interessierte sogar selbst an „digitalen Graffiti“ als Kunstform beteiligen. Dabei werden mithilfe von Elementen aus der Welt der Videospiele Graffiti-Projektionen erzeugt, welche den Effekt des Sprühens wie aus einer Spraydose simulieren. Das Format mit dem Slogan „Demokratie braucht Farbe“ wurde durch die Künstler Cart´1 und Matthieu Tercieux aus Lyon (Frankreich) realisiert.

20:50 Uhr: nochmal ein Blick nach Halle/Saale

In Halle an der Saale wurde heute zugleich, wie bereits erwähnt, der Opfer des antisemitisch und rassistisch motivierten Anschlags vor genau drei Jahren gedacht.

Mit einem Aufzug und einem stillen Kerzen-Gedenken am Abend soll die Erinnerung an die zwei von einem Neonazi erschossenen Menschen wachgehalten werden, die nur 20 und 40 Jahre alt wurden. Zudem ginge es darum, Solidarität mit den Verletzten und Hinterbliebenen zu zeigen.

Damals, am 9. Oktober 2019, hatten die erschütternden Meldungen aus Halle auch das parallel stattfindende Lichtfest zum 30. Jahrestag der großen Montagsdemo in Leipzig erreicht und zu massiven Sicherheitsvorkehrungen geführt.

21:30 Uhr: Liveticker ist geschlossen

Mit diesen Eindrücken verabschieden wir uns von Ihnen und Euch, wünschen eine geruhsame Nacht und einen guten Wochenstart. Auf bald, Ihr bzw. Euer Team der LZ.

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