Ach, diese Jugend! Luxusverliebt, frei von Manieren, autoritätsverachtend, ohne Respekt vor Älteren, schwatzend, wo sie doch arbeiten solle. Und: „Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“

Wir wissen, dass wir (fast) nichts wissen

So soll es der Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) dereinst geäußert haben. Nur: Seine gefühlt totzitierte Kritik am angeblichen Werteverfall der Jugend ist dem griechischen Denker ohne jeden Beweis in den Mund gelegt worden und wabert bis heute durch Schriftgut und Onlineforen.

Viele Althistoriker gehen trotzdem davon aus, dass der skeptische Blick auf junge Menschen und ihr Verhalten schon in der Antike ein Thema war. Sicher ist auch, dass es bereits damals Instanzen der Erziehung und Sozialisation sowie Rituale gab, die den Übergang ins Erwachsenendasein reglementierten.

In Summa aber wissen wir über Lebensumstände, Subkulturen und Alltag Heranwachsender in vormoderner Zeit wenig. Die überlieferten Quellen aus Antike und Mittelalter sind rar gesät, obendrein fehlte es lange an einem universellen Konzept, was Jugend als eigenständigen Lebensabschnitt zwischen Kind und Erwachsenem überhaupt wahrnahm.

Im vorindustriellen Kontext war es, jedenfalls in Deutschland und Europa, meist der Status innerhalb eines feudalen Systems, der für Zufall wenig Platz ließ und auch die Lebenswirklichkeit junger Menschen zwischen 13 und 19 Jahren begrenzte – jener Altersspanne, die gemeint ist, wenn wir Jugendliche im Sinne von Teenagern verstehen. Auch unter dem feudalen Abhängigkeits-Regime blieb den Heranwachsenden für einen späteren Ausbruch und Aufstieg nur wenig bis gar kein Spielraum, sofern sie das Jugend- und dann Erwachsenenalter überhaupt erreichten.

Jugend als Moratorium und Privileg

Erst die Industrialisierung und das rasante Wachstum der Städte im Laufe des 19. Jahrhunderts brachen dieses Muster. Um die Wende zum 20. Jahrhundert sorgten das Schulsystem und die Bereitstellung vielfältiger Bildungsangebote tendenziell für mehr Auswahl und damit auch neue Optionen beim individuellen Lebensentwurf.

Dieser Prozess aber zog sich über lange Zeit. Er kann nicht verdecken, dass massenhaft junge Menschen bis ins 20. Jahrhundert aus ihren Kinderschuhen nahtlos in eine arbeitsreiche und oft erbärmliche Existenz fielen, geringe Lebenserwartung inklusive.

Die Jugendzeit als Phase des Moratoriums, in der lebenshungrige Mädchen und Jungen ihrem stürmischen Freiheitsdrang nachgehen und sich (noch) ohne Sorgen um die eigene Lebensabsicherung testen konnten: ein Luxus, in dessen Genuss lange nur eine Minderheit kam.

Meist waren es männliche Personen bürgerlicher Herkunft, die sich mit Gleichaltrigen trafen und dem Korsett des Elternhauses zeitweise entgingen, ohne dessen Schutz zu verlieren. Dieses Privileg sollte sich erst im späteren 20. Jahrhundert großflächig ändern.

Idealbild der Aufklärung

Auch der äußere Blick auf die Jugendlichen war einem Wandel unterworfen. Im 18. Jahrhundert gab es bereits Ansätze, welche die Jugendzeit unabhängig von der feudalen Ständeordnung als autonome Entwicklungsstufe des menschlichen Daseins mit eigenen Bedürfnissen anerkannten.

So griff beispielsweise der Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) den benannten Gedanken eines Moratoriums wieder auf, an dessen Ende der heranwachsende Mensch (gemeint ist ein Junge bzw. junger Mann) wirtschaftlich autonom dasteht und eine Familie gründen kann. Bis dahin möge er sich fortbilden, Verantwortung übernehmen, Mitmenschlichkeit entwickeln und sexuell reifen.

Abschied von Jungfrauen und Jünglingen

Aber erst um 1900 bekam die Jugend (vorher war meist von Jungfrauen und Jünglingen die Rede) ihren Rang in Fächern wie Soziologie, Anthropologie, Rechtswissenschaft, Pädagogik und Psychologie. Je nach Disziplin galt „die Jugend“ wahlweise als labiler Lebensabschnitt, Hoffnungsträger, Ziel von Erziehungsmaßnahmen oder gefährlicher Problemfaktor – letzteres vor allem im Zusammenhang mit Verwahrlosung und Kriminalität. Das wissenschaftliche Angebot an Konzepten zur Jugend wiederum wirkte auf Politik, Erziehung, Rechtsprechung, Schulwesen und Mediendiskurs zurück.

Manch damalige Theorien gelten heute freilich als überholt, wie jene des Pädagogen und Psychologen Eduard Spranger (1882–1963), dessen Jugendbildern („Psychologie des Jugendalters“, 1924) schon zeitgenössisch angekreidet wurde, zu idealtypisch und spekulativ zu sein. Doch trotz oder gerade wegen aller Kontroversen hatte die Wissenschaft die Rolle der Deutungsinstanz übernommen. In der Jugendpolitik galten die Heranwachsenden im positiven Sinn als junge Menschen, deren Gewinnung für Staat und Gesellschaft wichtig ist.

Der Mythos der Jugend

Zudem lässt sich beobachten, wie „der Jugend“ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend der Hauch des Mythischen umwehte, angetrieben durch die Selbstorganisation junger Menschen in Gruppierungen wie etwa dem „Wandervogel“, „wilden Cliquen“ oder der „Bündischen Bewegung.“ Eine Häufung von Suiziden unter Schülerinnen und Schülern um 1900 befeuerte die Debatten, was mit den jungen Menschen los sei, Kunst und Kultur verarbeiteten die Jugend-Thematik auf ihre Weise als Konflikt mit der Elterngeneration.

Die Jugend, als gesellschaftliche Gruppierung endgültig im Diskurs angekommen, wurde hier einerseits in der Rolle des Opfers gesehen, andererseits galt sie als Chiffre für Aufbruch, Erneuerung und Zukunft. Nach der „Machtergreifung“ 1933 knüpfte Hitlers Regime teilweise an dieses Narrativ an, entwarf jedoch in der diktatorischen Jugendorganisation („Hitlerjugend“, „Bund Deutscher Mädel“) neue, geschlechtsspezifische Leitbilder.

In der NS-Jugendpolitik musste der ideologische Korridor des Nationalsozialismus über allem stehen: Rationalität, Selbstbeherrschung, Opferbereitschaft, Gehorsam, Disziplin, Drill, Anti-Individualismus sowie Ausgrenzung und Beseitigung als unerwünscht markierter Personen standen im Mittelpunkt. Jugendliche Abweichler lebten entsprechend gefährlich und wurden verfolgt.

DDR-Jugend zwischen Mitmachen, Anpassung und Dissidenz

Nach 1945 gingen die Entwicklungen der Jugendbilder in beiden deutschen Staaten auseinander. Der DDR gelang ein formell hoher Erfassungsgrad der jungen Generation in Form der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), doch das Ideal der jungen Menschen als Träger für den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft wurde durch deren starke Fixierung in Richtung der westlichen (Konsum)Kultur konterkariert.

Da unkontrollierbarer Raum in der sozialistischen Erziehungsdiktatur als Risiko galt, nahmen die SED-Oberen zaghafte Liberalisierungen der Jugendpolitik in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre überwiegend zurück. Jugendliche und ihre subkulturellen Nischen wurden bis zum Kollaps der DDR von der Herrschaft misstrauisch beäugt.

Debattenfeuer in der BRD

Cover Leipziger Zeitung Nr. 115, VÖ 29.07.2023. Foto: LZ

In der frühen Bundesrepublik prägte vor allem der Soziologe Helmut Schelsky (1912–1984) die Diskussionen, dessen Jugendstudie „Die skeptische Generation“ (1957) Auseinandersetzungen bis hinauf zum Bundestag entfachte. Eine zentrale These Schelskys: Junge Menschen, verschreckt durch Faschismus, Krieg und Not, seien in ihrer Grundeinstellung weitaus skeptischer als frühere Generationen. Angepasst und illusionsfrei, suchten sie ihr Glück eher privat als in einer politischen Verheißung.

Kritische Beobachter hielten schon damals entgegen, dass sich eine – nicht ganz winzige – Minderheit Jugendlicher so gar nicht in dieses Raster fügen wollte. Gerade in Kreisen der proletarischen Jugend wurde gern eine provokative Lässigkeit zur Schau gestellt, oft als Rebellion gegen die verstaubte, autoritätsfixierte Gesellschaft der Ära Adenauer verstanden. Das Phänomen der „Halbstarken-Krawallen“ der späten fünfziger Jahre in der BRD passte in dieses Schema, zugleich war eine gewisse „Amerikanisierung“ des jugendlichen Lebensstils zu erkennen.

Dessen Ausstrahlung reichte bis in den Ostblock und die DDR, wo die SED freilich mit Abwehr reagierte und einen Beleg für die Aggressivität des US-Imperialismus sah. Später stellten Jugendliche auch in der 68er-Bewegung einen wichtigen Träger dar.

„Jahrhundert der Jugend“

Insgesamt, so der Erziehungswissenschaftler Uwe Sander, gibt es gute Gründe, das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Jugend“ zu bezeichnen. Nicht nur die Etablierung und Expansion jugendlicher Kulturen seit etwa 1900 mit ihrer Vielfalt an Werten, Lebensentwürfen, Mode und Musikgeschmack sprechen dafür. Zugleich erfasste die Jugend als autonomer Teil der Biografie mit zunehmendem Wohlstand nach 1945 nahezu alle Menschen in der westlichen Gesellschaft.

Sorgloses Austesten, Grenzgänge, die erste Liebe, Persönlichkeitsfindung, Rebellion, die Abnabelung von den Eltern, ohne auf deren Schutz und Beistand verzichten zu müssen: Was als Privileg begann, wurde zum Gemeingut, ohne dass die Lebensweisen einheitlich waren. Sozusagen die Jugend für alle.

Forschung, Institutionen, Medien und Gesellschaft hatten die Jugend, früher neben der Kindheit bestenfalls „unter ferner liefen“ gesehen, endgültig als wichtigen Lebensabschnitt anerkannt, er wurde intensiv untersucht, verrechtlicht und debattiert. Jugendlichkeit war Ideal, Kompliment und Sehnsucht, was auch von der Werbeindustrie fleißig kultiviert wurde.

Es gibt keine Weltformel

Und heute? Konsens besteht darin, dass es „die Jugend“ natürlich nicht gibt. Das gilt im globalen Kontext, aber auch innerhalb Europas und Deutschlands zeigen sich viele Bruchlinien: Soziale und regionale Herkunft, Bildungswege, Geschlechter, Wertvorstellungen, eine mögliche Flucht- oder Migrationsgeschichte – das sind nur Beispiele, an denen sich die Pluralität Jugendlicher offenbart.

Dazu kommt die begriffliche Unsicherheit, denn Jugend kann eine soziale Gruppe ebenso meinen wie diverse Altersspannen oder einen Teil der psychischen und körperlichen Entwicklung. Nach einer „Weltformel der Jugend“ wird man wohl immer vergeblich suchen.

Corona, Klima, Krieg, Inflation: Krisenlast ballt sich zusammen

Empirisch zeigen Umfragen, dass die Teenager und jungen Erwachsenen (14–29) von heute psychisch stärker belastet sind als früher. Kein Wunder, denn die verlorene Zeit in den Corona-Lockdowns zehrt ebenso an den Nerven wie der Dauersound der Klimakrise, und als wäre das nicht genug, hat Putin mit seinem mörderischen Krieg in Europa bereits die nächste Misere ausgelöst.

Nicht die Krisen und Unsicherheiten sind neu, wohl aber ihre Häufung der letzten Jahre, so der Jugendforscher Benno Hafeneger: Die junge Generation wolle Stressfaktoren im Leben reduzieren, suche tendenziell nach mehr Freizeit und Lebensgenuss statt allein Geld und Karriere.

Auf der Suche nach Lösungen für den eigenen Lebensplan sei ein wechselseitiges Verständnis Älterer und Jüngerer wichtig, meint der Psychologe und Erziehungswissenschaftler: „Wichtig ist, dass sich dabei beide Generationen gegenseitig ernst nehmen, sich zuhören, irgendwie verstehen. Im Prinzip war es immer so, dass die erwachsene Generation hofft, dass es ihren Kindern bessergeht.

Dieser Zukunftsoptimismus ist seit längerer Zeit gebrochen. Das Motto ist eher: Wir können froh sein, wenn wir den Status quo erhalten. Das ist eine neue Herausforderung auch für die Erwachsenengeneration.“

„Geschichte der Jugend: Lebenswelten und Bilder junger Menschen im Wandel“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 115, der LEIPZIGER ZEITUNG.

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Verwendete Quellen und Lesetipps:

  • Peter Dudek, Geschichte der Jugend, in Heinz-Hermann Krüger, Cathleen Krüger, Katja Ludwig (Hg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, 3. Aufl., Wiesbaden 2022, S. 497–519.

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