Wie sehr sich die Arbeitswelt in den letzten drei Jahrzehnten verändert hat, weiß jeder, der nicht nur brav jeden Tag stundenlang zur Arbeit pendelt und auf Lohnforderungen verzichtet. Selbst der Gedanke, aus Krankheitsgründen mal ein paar Tage auszufallen, ist mittlerweile mit Schuldgefühlen behaftet. Man schmeißt sich Pillen rein und schleppt sich selbst dann zur Arbeit, wenn man eigentlich bitter nötig ausschlafen müsste. Eine Auswertung der BARMER.

Laut einer Studie der Uni St. Gallen sind rund 67 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen. 65 Prozent der Befragten gaben an, dies aus Pflichtgefühl getan zu haben, 50 Prozent nahmen Rücksicht auf Kollegen und 28 Prozent waren der Meinung, kein anderer könne die eigene Arbeit machen.

„Menschen, die krank zur Arbeit gehen, scheinen Getriebene zu sein, die zu wenig auf Signale ihres eigenen Körpers achten. Das ist ein riskantes Verhalten sowohl aus medizinischer, aber auch aus volkswirtschaftlicher Sicht“, versucht Dr. Fabian Magerl, Landesgeschäftsführer der BARMER in Sachsen, das Verhalten zu erklären.

Die Signale bekommen die Betroffenen wohl mit. Aber irgendetwas ist da in den vergangenen Jahren anders geworden in unserer Sicht auf Arbeit. Und das hat viel damit zu tun, wie Leistung mittlerweile definiert wird. Nicht mehr positiv. Leistung wird nicht mehr belohnt, was jeder weiß, der in einem der Millionen Jobs arbeitet, ohne die unsere Gesellschaft nicht mehr funktioniert.

Effizient gemachte Jobs, bei denen jede Zeiteinheit mit der Stoppuhr gemessen wurde, gewertet und aufgerechnet wurde. Mit dem Ergebnis, dass sich ganze Behörden, Institute, Verwaltungen, Krankenhäuser, Vertriebssysteme usw. „verschlankt“ haben.

Das sind jedes Mal die tollen Zahlen von Arbeitsplätzen, die „erfolgreiche“ Manager verkünden, wenn sie behaupten, das Unternehmen wieder fit machen zu wollen. Hinterher erledigen dann deutlich weniger Menschen dieselbe Arbeit. Die sogenannten Effizienz- und Synergiegewinne gehen fast immer zulasten derer, die hinterher noch ihren Arbeitsplatz behalten dürfen. In der Regel fürs selbe Geld. Sie leisten nun deutlich mehr – aber das wird nicht honoriert.

Und die Bilanzen der Krankenkassen mit ihren steigenden Zahlen von abgerechneten psychischen Erkrankungen erzählen davon, was mit dem „Restpersonal“ passiert: Es landet in einer Leistungsmühle, aus der es entweder nur noch ganz aussteigen kann – oder „aus Krankheitsgründen“ geschleudert wird. In vielen Berufsfeldern erreichen die Beschäftigten nicht einmal die Regelaltersgrenze – das betrifft Schulen genauso wie Krankenhäuser.

Und – wie man hört – auch die Arbeit von Kraftwagenfahrern und Straßenbahnfahrern. Alle Erzählungen über betriebliche Gesundheitsvorsorge kaschieren die Tatsache, dass schon die allersimpelste Gesundheitsvorsorge wegrationalisiert wurde: Das scheinbar so überzählige Personal, das alle unberechenbaren Ausfälle anderer Kolleg/-innen auffangen könnte. Das früher ganz selbstverständlich vorgehalten wurde.

Aber mit der neoliberalen Effizienzberechnung sind diese Personalpolster radikal zusammengestrichen worden.

Und das führte ganz augenscheinlich dazu, dass sich die verbliebenen Arbeitskräfte als unersetzbar sehen. Was sie meist auch sind. Man schaue nur ins nächste Krankenhaus, wo jede einzelne Schicht aufs Knappeste mit Personal besetzt ist. Wenn eine Schwester ausfällt, bleibt die andere mit ihrer Station in der Regel allein. Ähnliche Phänomene haben wir längst auch in den Justizvollzugsanstalten, Schulen, Gerichten und Polizeidienststellen. Alles ist nach „modernen Maßstäben“ auf knappeste Ressourcen berechnet.

Da lesen sich die Umfragewerte zu Pflichtgefühl (65 Prozent), Rücksichtnahme auf Kollegen (58 Prozent) oder niemand anders kann meine Arbeit tun (28 Prozent) gleich anders. Die Arbeitenden haben das heute propagierte Leistungsethos verinnerlicht – auch weil sie genau wissen, dass wirklich keiner mehr da ist, der mal schnell einspringen kann. Das hat schon etwas Perfides an sich, denn die Betroffenen wissen genau, dass ihre Kollegen dann darunter leiden. Oft sind die Zustände ja schon lange so exemplarisch wie bei der sächsischen Polizei, die genauso unter unbearbeiteten Fällen leidet, wie bei der Justiz, wo dasselbe gilt.

Und selbst wenn man die ersten drei Fragepunkte noch beiseite lässt, landet jeder Fünfte in der Falle Nr. 4: „Zu viel Arbeit“. Zeichen dafür, dass viele Arbeitsfelder längst so knapp kalkuliert sind, dass die Aufgaben vom Beschäftigten gar nicht mehr abgearbeitet werden können.

Kein Wunder also, dass Deutschland von seinen so harsch kritisierten Exportüberschüssen nicht herunterkommt. Genau hier entsteht nämlich die Kluft: Es wird mehr Arbeit geleistet, als bezahlt wird. Die Überschüsse werden exportiert. Aber wenn der aufgewendeten Arbeit nicht die adäquate Bezahlung gegenübersteht, kaufen die Deutschen zwangsläufig zu wenig ein in der Welt. Die, die kaufen würden, wenn sie Zeit und Gesundheit dafür hätten, können es nicht.

Sie sind immer öfter ganz damit beschäftigt, sich irgendwie für jeden neuen Tag wieder in Funktion zu setzen und eine Arbeit zu verrichten, von der sie genau wissen, dass sie nicht zu schaffen ist. Und dass sie genau deshalb auch nicht befriedigt. Nicht einmal diesen Trost gibt es mehr.

Ein riskantes Verhalten, meint die BARMER. Denn die Betroffenen treiben mit ihrer eigenen Gesundheit Schindluder, nur um den völlig überzogenen Leistungserwartungen einer überdrehten Gesellschaft gerecht zu werden.

„Leichte Kopfschmerzen müssen einen nicht gleich davon abhalten, arbeiten zu gehen. Doch wer stark erkältet ist oder sogar Fieber hat, gehört ins Bett und sollte sich gründlich auskurieren. Denn wer zu früh an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt oder die Krankheit verschleppt, dem drohen dauerhafte Schäden oder gar eine Chronifizierung der Krankheit“, meint Magerl. Denn diese Bereitschaft selbst unter beeinträchtigter Gesundheit hat Langzeitfolgen.

Die Arbeitnehmer würden dann umso länger ausfallen. „Außerdem darf man die Ansteckungsgefahr nicht unterschätzen. Schnell kann sie in der Firma zu einem Dominoeffekt führen“, ergänzt der Kassenchef.

Und so bringt es die BARMER auf ein neues Wort, das freilich den Kern des Problems nur vage streift: „Präsentismus als teure Krankheit“.

Je nach Schwere der Krankheit werde in der Forschung zwischen krankheitsbedingtem und therapeutischem Präsentismus unterschieden. Von Letzterem spricht man, wenn der Arbeitnehmer auf ausdrückliche Empfehlung des Arztes arbeiten geht.

„Studien belegen, dass Präsentismus die Unternehmen doppelt so teuer zu stehen kommt wie krankheitsbedingte Ausfälle. Angst, die Arbeit nicht zu schaffen ist offenbar ein Hauptgrund für Präsentismus“, legt auch Magerl den Finger in die Wunde. „Arbeitgeber und Führungskräfte sollten beispielsweise darauf achten, Druck nicht einfach nach unten weiterzugeben.“

Dumm nur, wen sie selbst unter demselben Druck stehen und gar nicht anders können.

Zudem zeigten Studien, dass es einen Zusammenhang zwischen Präsentismus und der Gesundheitskompetenz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt. Das bedeute: Je verantwortungsbewusster die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Gesundheit umgehen, desto weniger sei Präsentismus ein Problem.

Aber was passiert, wenn Mitarbeiter/-innen so gar nicht ticken dürfen? Wenn ein Unternehmen den nötigen Personalpuffer schon vor Jahren abgebaut hat? Dann hilft auch der gute Rat des Arztes nicht mehr. Dann entsteht eine gesundheitlich erlebbare Kluft zwischen überdrehten Leistungsansprüchen und der endlichen Belastbarkeit der Betroffenen. Und das Gefühl, im Beruf Bestätigung zu finden, geht auch vor die Hunde. Dafür wächst die Angst, auch nur einen Tag auszufallen. Und der Arzt darf dann auch gleich noch die Pillen zur Leistungssteigerung verschreiben.

Ich glaub’, mich streift das Glück … Die Weihnachts-LZ ist da

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