Das süße Gift: In früheren Jahrhunderten unheimlich kostbar und rar, wird Zucker heutzutage selbst Speisen beigemengt, in denen die wenigsten ihn vermuten würden. Merken wir das überhaupt noch? Hat sich unser Körper vielleicht sogar schon an die süße Substanz gewöhnt? Sind wir gar süchtig nach Zucker und geht das überhaupt?) Zucker kann wie eine Droge wirken, zählt aber nicht offiziell zu den Suchtmitteln. Ob er in diese Kategorie eingeordnet werden sollte, darüber scheiden sich die Geister. Magazine wie der Spiegel oder Focus, Lifestyle- und vorrangig an Frauen gerichtete Zeitschriften gehen zu großen Teilen davon aus, dass es eine Sucht nach Zucker gibt und stellen oftmals direkt eine Strategie zur Bekämpfung dieser zur Verfügung. Tipps wie „Rechnen Sie zusammen, wie viel Zucker Sie täglich essen und rechnen Sie diese Menge in Zuckerwürfel um, die Sie vor sich auf den Tisch legen“ ersetzen quasi die Beratung und Therapie, die für Kampf gegen „klassische“ Süchte empfohlen werden.

Droge oder keine Droge?

Für viele Ärztinnen und Ärzte, Ernährungssachverständige sowie Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler aber sei die Bezeichnung „Sucht“ für das ständige Verlangen nach Zucker zu drastisch, schreibt 2022 die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) auf ihrer Homepage zu dem Thema. Die Kasse bezieht sich auf eine Studie („Sugar: Consumption at a crossroads“), die die Schweizer Bank Credit Suisse vor einigen Jahren in Auftrag gegeben hatte. Fest steht aber: Die süßen Kristalle, die wir in ihren unterschiedlichsten Formen (Glucose, Saccharose, Fructose u. v. m.) im Alltag kaum vermeiden können, können im Gehirn die gleichen Areale aktivieren wie Drogen und sexuelle Erregung. Nachgewiesen ist auch, dass Zucker – zumindest bei Ratten – die Kriterien eines Suchtmittels erfüllt. Experimente, in welchen Neurowissenschaftler der Princeton University (New Jersey) bereits 2002 Ratten über eine gewisse Zeit Zuckerwasser vorsetzten, hatten zum Ergebnis, dass die Tiere nach und nach nicht nur körperliche Entzugserscheinungen ausbildeten, wenn sie das gesüßte Wasser für längere Zeit nicht bekamen. Die Nager forderten auch immer größere Mengen ein.
Cover Leipziger Zeitung Nr. 112, VÖ 30.04.2023. Foto: LZ
2015 präzisierte ebenjenes Forschungsteam rund um den Psychologen Bart Hoebel das Studienergebnis. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten im Zusammenhang mit Zucker auch das dritte bestätigte Kriterium zur Klassifizierung einer Sucht fest: das sogenannte „Craving“ („Verlangen“) and „relapse“ („Rückfall“). Nachdem die Ratten zuerst an Zucker gewöhnt worden waren, ihnen das süße Wasser dann aber für gewisse Zeit entzogen wurde, schlugen sie mit umso größerer Gier zu, als sie es erneut vorsetzt bekamen. Die Zeit der Abstinenz hatte das Bedürfnis nach Zucker verstärkt. Hoebel erklärt dieses Verhalten durch Veränderungen im Gehirn, die ebenso bei dem Konsum von Suchtmitteln wie Kokain oder Nikotin auftreten. Bei der Einnahme jener Mittel bzw. in diesem Fall bei der Einnahme von Zucker wird Dopamin ausgeschüttet. Das Forscherteam geht davon aus, dass dieser auch als „Glückshormon“ bekannte Botenstoff der Grund für ein erhöhtes Bedürfnis nach der begehrten Substanz ist und schließlich zur Sucht führt. Die regelmäßige Einnahme von Zucker kann außerdem Veränderungen im Verhalten auslösen. In manchen Fällen zeigte sich eine größere Neigung dazu, andere Suchtmittel, wie Alkohol, zu konsumieren. Der Entzug von Zucker sorgte zudem dafür, dass die Tiere sich zurückzogen und Anzeichen von Angstverhalten an den Tag legten. Während gesunde Ratten normalerweise mit Neugier ihre Umgebung erkunden, bevorzugten es die „süchtigen“ Nager, sich in eine ruhige Ecke zurückzuziehen.

Wie umgehen mit der „Sucht“?

Behandelt wird das unwiderstehliche Verlangen nach Zucker bisher vorrangig wie eine Essstörung, während andere Stimmen darauf plädieren, Methoden wie in der klassischen Suchtbehandlung anzuwenden. Eine Studie der Queensland University of Technology (QUT) legt daneben nahe, dass Medikamente, die zur Behandlung einer Nikotinsucht angewandt werden, auch bei der Entwöhnung von Zucker helfen könnten.  Oft bedeutet der Umgang mit einem übermäßigen Konsum des Süßmittels vor allem auch die Behandlung von Folgeerkrankungen, wie Karies oder Diabetes. Klar ist also: Zucker kann uns krank machen und dafür sorgen, dass es uns nach immer mehr von den süßen Kristallen verlangt – ob nun als klassisches Suchtmittel eingeordnet oder einfach als Lebensmittel in Supermarktregalen. „Zuckersucht – Hirngespinst oder bittersüße Realität? Das Verlangen nach Süß“erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Sucht“ im am 30. April 2023 ersten ePaper LZ 112 der LEIPZIGER ZEITUNG. Der Schwerpunkt wird das Thema in allen denkbaren Facetten behandeln: Alkohol, Drogen, aber auch eher Unbekanntes wie Pornosucht. Und während die Debatte über die Legalisierung von Cannabis läuft, schauen wir zurück auf die Geschichte der Drogen quer durch die Zeitalter. Sie wollen zukünftig einmal im Monat unser neues ePaper erhalten? Hier können Sie es buchen.

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