Seltene Erkrankungen – so sagt es bereits der Name – kommen, jede für sich gesehen, nur in geringer Zahl vor. Für alle Nicht-Betroffenen erst einmal ein glücklicher Umstand, im Umkehrschluss bedeutet es jedoch auch, dass diese Erkrankungen oft schwerer zu erkennen sind und es weniger Expert:innen gibt, die sich mit Diagnose und möglichen Therapien auskennen.

Die Kinderklinik des Universitätsklinikums Leipzig (UKL) ist ein Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche mit Immundefekten, rheumatischen Erkrankungen und seltenen Infektionen. Prof. Christian Klemann leitet den Bereich. Der 41-Jährige Kinderarzt hat sich früh in seiner Laufbahn auf das kindliche Immunsystem und dessen vielfältige Störungen spezialisiert. Zu ihm kommen sozusagen die ganz seltenen Fälle – wenn es sein muss, auch mit mehreren hundert Kilometern Anfahrtsweg.

Wie im Fall des sechsjährigen Felix: Er leidet seit Geburt an einem Immundefekt namens Hyper-IgE-Syndrom. Seine Eltern kommen mit ihm aus dem niedersächsischen Oldenburg zur Untersuchung ans UKL nach Leipzig. Und sie tun das gern, denn Prof. Klemann war es, der die Krankheit bei Felix als Erster diagnostizierte und damit eine jahrelange Unsicherheit beendete.

Das Hyper-IgE Syndrom (HIES) ist eine seltene angeborene chronische Erkrankung, die unter anderem auf einer Fehlsteuerung des Abwehrsystems beruht. Mehrere Strukturen im Körper sind gleichzeitig betroffen. Die wesentlichen Symptome sind wiederkehrende Abszesse der Haut und Weichteile, Lungenentzündungen, sowie eine ekzemartige Hauterkrankung, die oft schon im frühen Säuglingsalter auftritt.

Auch gröbere Gesichtszüge, ein fehlendes Ausfallen der Milchzähne, eine Schiefstellung der Wirbelsäule und erhöhte Knochenbruchgefahr gehören zu den Symptomen, genauso wie chronische Pilzinfektionen des Nagelbetts.

„Ein wenig wie bei ‘Dr. House’.“

Prof. Christian Klemann untersucht intensiv die Füße von Felix: „Hier haben wir es“, und zeigt Mutter Lea Brandt die Stelle, die er meint, in einem Zehenzwischenraum: „Das ist eines der Probleme bei dieser Krankheit: Es kann zu Pilzbefall an den Füßen kommen“, sagt er und schiebt ein aufmunterndes „Du machst das klasse, Kumpel“ in Richtung des Jungen hinterher. Felix ist sechs Jahre alt, Klemann kennt ihn, seit er drei war. 

Damals, an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), gelangen die Unterlagen mit dem Fall eines Jungen auf seinen Platz. Eher durch Zufall, um einen diagnostischen Aufenthalt zu planen. Was er liest, zeichnet die Odyssee eines kranken kleinen Kindes und seiner verunsicherten und fast schon am Ende ihrer Kräfte befindlichen Eltern durch Arztpraxen und Krankenhäuser nach. Der kleine Felix kennt Intensivstationen und Operationssäle, verbringt viele Wochen seines jungen Lebens stationär. Und das Bedrückendste: Niemand kann der Familie genau sagen, woran er leidet. 

24 Stunden nach seiner Geburt im November 2017 erleidet Felix einen Krampfanfall nach einer Hirnblutung, es folgen dreieinhalb Monate Krankenhaus, mehrere OPs. Wenig später steckt er sich bei einem Kinderarztbesuch mit RS-Viren an. Der daraus resultierende schleimige Husten und eine schwere Bronchitis verschwanden danach nie wieder komplett. Hinzu kommt ein schwerer Hautausschlag, „Neurodermitis“, wird den Eltern gesagt. In Oldenburg liegt Felix sechs Wochen auf einer Intensivstation wegen einer Lungenentzündung. Alle Tests führten zu keiner Erkenntnis, was die Ursache dieser ganzen Probleme sein könnte. 

Lea und André Brandt, die mehr und mehr verzweifelten Eltern, wurden häufig vertröstet. Oft hörten sie, dass „sich alles verwachsen wird mit der Zeit“ – bis ein Arzt die Unterlagen schließlich an Prof. Christian Klemann in der MHH schickte, dieser sich in den Fall vertiefte und bereits beim Lesen einen Verdacht hegte. Es folgte ein erstes langes Telefonat mit Mutter und Vater Brandt, in dem er sich nochmals Krankheitsgeschichte und Symptome erklären ließ.

„Ich bat anschließend die überraschten Eltern um ein Foto von Felix sowie Fotos von ihnen selbst“, erzählt der Mediziner. Der Vergleich erhärtete seinen Verdacht, traten beim Kind nämlich subtile, aber für den Experten bemerkbare Abweichungen in der Gesichtsform auf. „Ich erkannte bei Felix eine etwas höhere Stirn, eine leicht breitere Nase und eine veränderte Gaumenform. Alles deutete auf HIES hin. Es war ein wenig wie in der Fernsehserie ‘Dr. House’“, erinnert er sich schmunzelnd, aber er war sich nun ziemlich sicher. 

Die richtige Diagnose

„Wir wurden in die Sprechstunde nach Hannover eingeladen“, blickt Lea Brandt auf die schicksalhaften Momente vor etwa drei Jahren zurück. „Wir warteten mit Felix im Spielbereich, als Prof. Klemann kam und einfach zu uns sagte: ‘Ich weiß, was er hat!’ – Diesen Moment vergesse ich nie“, erinnert sich die Mutter. Die Diagnose HIES schockierte natürlich erst einmal. Schnell folgte jedoch große Erleichterung, als endlich klar wurde, an was Felix wirklich leidet und wie man ihm helfen kann. 

Noch im Uniklinikum der niedersächsischen Landeshauptstadt erhielt Felix seine erste Immunglobulingabe sowie eine Antibiotikatherapie, keimreduzierende Hautwaschungen und Atemphysiotherapie. Sogleich ging es dem Jungen besser, der Zustand der Haut verbesserte sich, der Husten verschwand.

„Felix wurde zwar geimpft wie alle kleinen Kinder, aber man konnte keine schützenden Antikörper im Blut nachweisen“, erklärt Prof. Christian Klemann. Felix´ Organismus sei zwar in der Lage, eigene Antikörper zu bilden, „aber die tun wegen seines angeborenen Immundefekts nichts, die schwimmen sozusagen nutzlos herum“, erläutert der Kinderarzt es mit einfachen Worten. 

Deshalb braucht Felix Spenderantikörper. Dabei wird – ähnlich wie bei einer Blutspende – Blutplasma von hunderten Spender:innen kombiniert, um einen gegen viele verschiedene Erreger wirksamen Antikörpercocktail zu transfundieren. Per so genannter IgG-Substitutionstherapie werden fehlende Immunglobuline ersetzt – Woche für Woche.

Diese können nicht einfach als Tablette oder Saft eingenommen werden. Sie müssen regelmäßig intravenös, also in die Vene, oder subkutan, das heißt, in das Unterhautfettgewebe, verabreicht werden. Für Felix ist diese Handlung mittlerweile so normal und eingeübt wie Zähne putzen. Die Immunglobulin-Substitution bietet Schutz vor Infektionen. Meist bleibt der Antikörpermangel ein Leben lang bestehen, daher erfolgt auch die Immunglobulin-Therapie dauerhaft.

Sämtliche Bluttests aus der Zeit „davor“ hatten zudem immer wieder fälschlicherweise ergeben, dass Felix eigentlich gegen so gut wie alles allergisch sei und vieles nicht essen dürfe. „Dank der richtigen Diagnose kann er nun wieder alles essen und trinken, das erleichtert den Alltag“, sagt Mutter Lea. 

„Nicht alle Symptome sind therapierbar, wie zum Beispiel die Bindegewebsschwäche oder die erhöhte Frakturgefahr“, betont jedoch Kinderimmunologe Klemann auch gleich, „darauf müssen die Eltern stark achten.“

Mal wieder Urlaub planen

Nach dem Wechsel Prof. Klemanns von Hannover nach Sachsen im Herbst 2022 ist für Vater André schnell klar: „Wo gehen Sie hin? Nach Leipzig? Kein Problem, wir kommen auch dorthin.“ Die über 400 Kilometer hin und genauso viele zurück würden Felix nichts ausmachen, denn er fühle sich wohl bei „seinem“ Arzt, betonen die Eltern.

„Für uns bedeutete das alles nach diesen schweren ersten Jahren eine enorme Erleichterung“, berichtet Lea Brandt. „Felix kann einfach mit anderen Kindern spielen, wir können Urlaub planen.“ Zu Beginn der Behandlungen in Hannover habe sie Felix einmal gefragt: „Mama, werde ich jetzt doch ein normales Kind?“, erinnert sich Lea Brandt mit brüchiger Stimme. 

Doch trotz aller Erfolge und guten Entwicklungen muss die Familie, zu der seit drei Jahren auch noch eine kleine Schwester gehört, jederzeit an vieles denken. Sind sie unterwegs, haben sie immer Felix´ gesamte Krankengeschichte bei sich, falls er mal bei Mediziner:innen vorstellig werden muss, die den Fall nicht kennen. Lea Brandt zählt mehr auf: „Felix muss täglich duschen, zwei Mal täglich muss er inhalieren, zwei Mal pro Tag wird er eingecremt, er erhält eine spezielle Atem-Physiotherapie, geht zur Logo- und zur Ergotherapie. Die Woche ist voll“, berichtet die Mutter.

„Felix´ Immunsystem hat spezifische Schwächen gegen Hefepilze und Staphylokokken, von denen aber sehr viele Menschen besiedelt sind, ohne jemals Probleme damit zu haben. Bei Felix müssen jedoch dauerhaft Antibiotika eingenommen werden und Waschungen erfolgen, um die Keimlast niedrig zu halten, was seiner Haut sichtbar hilft.“ erklärt Prof. Klemann während der Untersuchung des Jungen. Dann klatscht er freundschaftlich mit Felix ab, als dieser ihm noch einmal ganz korrekt erklärt, wie er die Immunglobulingabe selbst vornimmt. Geübt ist eben geübt.

  • Hoffnung auf Gentherapie

Im heutigen Mediziner-Alltag bleibe oft keine Zeit, viele Papiere zu lesen und lange Gespräche mit den Betroffenen zu führen, meint UKL-Kinderimmunologe Klemann, als er mit Felix fertig ist. An die Eltern gewandt, sagt er: „All´ die Jahre hatten Sie beide immer gespürt, da stimmt etwas nicht. Das Inspirierende bei Ihnen war und ist, dass Sie drangeblieben sind, trotz der vielen vagen Vertröstungen und auf Ihr Gefühl gehört haben, dass mehr dahinterstecken könnte.“ Lea Brandt antwortet, wie dankbar sie seien, diese Betreuung zu erhalten: „Auch unser Hausarzt ist dadurch so gut informiert, dass er uns jetzt viel besser betreuen kann.“

Christian Klemann wagt noch einen Ausblick in die Zukunft: „Stand heute braucht Felix sein Leben lang Immunglobuline und Antibiotika. Immer besteht die Gefahr schwerer bakterieller Infektionen. Pilzbekämpfungsmittel wirken vielleicht später weniger, wenn Resistenzen steigen. Doch ich bin zuversichtlich, dass in den nächsten Jahren auch für diese und ähnliche seltene Krankheiten Gentherapien entwickelt werden könnten, daher ist eine Förderung der universitären Forschung so wichtig, denn gewinnorientierte Unternehmen können an solch seltenen Erkrankungen nicht gut verdienen“, so der UKL-Spezialist für Immundefekte.  

„Mehrere Patient:innen mit ultra-seltenen Erkrankungen in der Betreuung“

Störungen des Immunsystems werden häufig als Abwehr- oder Immunschwäche, Immundefizienz oder Immundefekt bezeichnet. Hierbei kann es sich um eine angeborene oder im Laufe des Lebens erworbene Störung handeln.

Prof. Klemann und sein Team sind spezialisiert auf Erkrankungen, die durch eine solche Abwehrschwäche (Immundefekt) gekennzeichnet sind. Sie verfügen dabei über viel klinische Erfahrung und Möglichkeiten der Spezial-Diagnostik, wie sie nur an wenigen Zentren in Deutschland zur Verfügung steht. 

Auf seine Mitarbeiter:innen, zum Beispiel aus der Pflege, kann er sich jederzeit verlassen. Ihre Arbeit ist für einen möglichen Therapieerfolg eminent wichtig. So meint denn auch Schwester Nadine Steigert: „Viele Patient:innen, die wir in unserer Sprechstunde sehen, haben bereits eine lange Odyssee, oft mit chronischen Schmerzen, hinter sich, bis letztlich eine Diagnose gestellt werden kann. Es ist schön, wenn man als Kinderkrankenschwester helfen kann, diesen Kindern und Jugendlichen ihr Selbstvertrauen zurückzugeben, wenn man mit ihnen das Spritzen ihrer Medikamente übt und sie so erfahren ‘Es ist kein Problem – ich schaffe das selbst!’“.  

Am UKL verzeichnet der Bereich für pädiatrische Immunologie, Kinder-Rheumatologie und -Infektiologie circa 1400 ambulante Patientenkontakte pro Jahr, also etwa 120 pro Monat, die allermeisten davon mit rheumatischen Erkrankungen, und etwa 20 mit Immundefekten. 

Mit HIES, der gleichen Erkrankung wie Felix, betreut Prof. Klemann übrigens aktuell noch eine weitere Patientin in Leipzig. „Insgesamt habe ich in meiner Laufbahn etwa zehn Menschen mit diesem Krankheitsbild betreut, was bei einer solch seltenen Erkrankung verhältnismäßig viel ist“, meint der Pädiater. 

Und zum Attribut „selten“ weiß er aktuell noch mehr zu berichten: „Wir haben derzeit mehrere Patient:innen mit ultra-seltenen Erkrankungen in der Betreuung, teilweise mit weniger als 10 bis 100 bekannten beziehungsweise publizierten Fällen auf der ganzen Welt. Diese Fälle finde ich natürlich besonders spannend!“

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