Die Stadt Leipzig müht sich aktuell um ein Wohnkonzept für Asylsuchende, das den selbst gesetzten Ansprüchen entspricht. Leipzig feiert 2012 auch das 800. Jubiläum des städtischen Krankenhauses St. Georg. Wenn - wie geplant - ab Oktober 2012 die ersten Asylsuchenden in das Haus Riebeckstraße 63 einziehen, verbinden sich beide Erzählungen.

Am Mittwoch, 18. Juli, will der Stadtrat das Konzept “Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig” beschließen. Mehr Dezentralität und keine Gemeinschaftsunterkunft mit mehr als 50 Plätzen, so lautet der vom Stadtrat selbst gesteckte Anspruch.

Von diesem Anspruch blieb das ursprüngliche Verwaltungskonzept ein ganzes Stück entfernt. Nun scheint am 18. Juli 2012 eine Ratsmehrheit für ein überarbeitetes Konzept möglich.

Teil des Vorschlagspaketes, das im Stadtrat zur Abstimmung stehen wird, sind die Einrichtung von zwei Gemeinschaftsunterkünften auf dem Gelände Riebeckstraße 63. In einem Haus I sollen danach 45 Flüchtlinge Aufnahme finden können. In einen Haus II soll Platz für 70 Menschen entstehen.

Weil der Standort Riebeckstraße 63 aus zwei Häusern bestehen soll, bewegt sich Haus I innerhalb der Vorgaben der Stadtpolitik. “Mit der geplanten Unterbringung von 70 Menschen in einem Haus widerspricht die Verwaltung wiederum dem Kriterium, nicht mehr als 50 Asylsuchende an einem Ort unterzubringen”, erklärte Linken-Stadträtin Juliane Nagel Anfang des Monats zu Haus II.
Deshalb habe die Linksfraktion zur Dimension des neuen Standortes in der Riebeckstraße noch Beratungsbedarf, so Nagel weiter. “Auf der anderen Seite ist die Situation insofern akut, als dass die Stadt ausreichend Kapazitäten für neu in Leipzig ankommende Flüchtlinge schaffen muss”, relativierte sie die Kritik zugleich.

Nach den Vorstellungen der Stadtverwaltung sollen im Oktober diesen Jahres die ersten Flüchtlinge in das bis dahin sanierte Haus Riebeckstraße 63 ziehen. Eine etwaige feierliche Eröffnung könnte dann zugleich mit einem nachdenklichen Erinnern verbunden werden.

Denn vor dann 120 Jahren, am 8. November 1892, nahm im damals erbauten Haus die “Zwangsarbeitsanstalt St. Georg” ihre Tätigkeit auf. Noch heute erinnerte der Backsteinkomplex mit seinen Außenmauern eher an eine ebensolche Zwangsanstalt, denn an eine gastliche Herberge.

Drachentöter Georg wacht auch heute noch auf dem Portal der Riebeckstraße 63. Name und Skulptur erinnern daran, dass das knapp 120 Jahre alte Bauensemble als Teil des städtischen Hospitals St. Georg entstand. Und dieses feiert bekanntermaßen in diesem Jahr seinen 800. Geburtstag.

Doch die mittelalterlichen Spitäler hatten mit einem modernen Krankenhaus, wie es das St. Georg spätestens seit der Inbetriebnahme des Neubaus in Eutritzsch 1913 darstellt, wenig gemein. Alle Armen, Kranken, Siechen, Nichtsesshaften und – nach den zeitgenössischen Vorstellungen – nicht ehrbar Lebenden fanden hier mehr oder weniger freiwillige Aufnahme und Versorgung. Strafgefangene inklusive. So stellte man sich einstmals öffentliche Fürsorge aus einer Hand vor.
Die Zeiten änderten sich, und besserten sich in Teilen. Jedenfalls entstanden für die verschiedenen Klientengruppen von Sozial-, Gesundheits-, und Strafpolitik getrennte Einrichtungen.

Eine dieser Einrichtungen war besagte Städtische Arbeitsanstalt St. Georg in der Thonberger Riebeckstraße. Doch auch hier mussten Fürsorgezöglinge mit Polizeigefangenen unter einem institutionellen Dach wohnen und arbeiten. Später kamen Obdachslose und sogenannte “lästige Sieche” hinzu.

Während der NS-Diktatur konnte jede und jeder, der den Herrschenden und der Volksgemeinschaft als “asozial” galt, hierher verbracht werden. Wer einmal derart stigmatisiert war, dem drohten damals Zwangssterilisierung, Ermordung im Rahmen der NS-Euthanasie oder Konzentrationslager.

“Gerade hier können die Menschen, die durch Minderwertigkeit, Triebhaftigkeit in verantwortungsloser Weise mehrere dieser Volksschädigenden Krankheiten sind, erfaßt und geheilt, bzw. der Antrag auf Sterilisation gestellt werden”, lobte die Anstaltsleitung im Mai 1935 ihr Tun. Gefunden hat dieses Schreiben, gehalten in der Sprache des Dritten Reiches, in den Beständen des Leipziger Stadtarchiv Thomas R. Müller. Er ist Leiter des Sächsischen Psychiatriemuseums in der hiesigen Mainzer Straße 7, das sich die Aufarbeitung der Schattenseiten der deutschen Sozialgeschichte zur Aufgabe gemacht hat.

Nach 1945 diente der Gebäudekomplex unter anderem als Fürsorgeheim für Prostituierte. In den 1970er Jahren erfolgte eine Nutzung als Außenstelle des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Leipzig – Dösen.

Im Haus Riebeckstraße 63 lebten zuletzt Menschen im Rahmen eines Wohnprojekts des Städtischen Eigenbetriebs Behindertenhilfe. Ein Projekt, das dafür steht, dass behinderte Menschen auch außerhalb großer Anstalten und Einrichtungen selbstbestimmt leben können. “Diese Kontinuität der Verwahrung und Stigmatisierung der hier notgedrungen lebenden Menschen soll mit einem Projekt durchbrochen werden, das den schrittweisen Auszug der Bewohner aus dieser ?totalen Institution’ in gemeindenahe Versorgungsstrukturen vorsieht”, schrieb Müller 1995 in einem Aufsatz vor dem Start des Wohnprojekts.

Nun sollen im Oktober 2012 in das Haus Riebeckstraße 63 voraussichtlich wieder Menschen einziehen. Ihnen – wie allen Bürgern des toleranten und weltoffenen Leipzigs, wie es in der Vorlage zum Wohnkonzept heißt – ist zu wünschen, dass die virtuelle Last der Steine nicht die Absichten erdrückt, die mit dem neuen Wohnkonzept für Asylsuchende verbunden sind.

Das Haus Riebeckstraße 63 steht übrigens in Sichtweite des Technischen Rathauses in der Prager Straße. In dem Verwaltungsneubau befindet sich im Trakt B die örtliche Ausländerbehörde.

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